12. September 2024
Literaturtaler für Hasan Sahin
Gerade erst hat Hasan Sahin in Dortmund einen Ehrenring bekommen, schon folgt der Literaturtaler des Landes NRW. Im Kulturhaus Taranta Babu wurde der heute verliehen; die langjährige Freundin des Hauses, Ayse Kalmaz, Film-Regisseurin und Autorin, hielt eine bewegende Laudatio. Es lauschten unter anderem Dr. Iudita Balint, Leiterin des Fritz-Hüser-Institut, Heiner Remmert, Leiter des Literaturhaus Unna und Jörg Albrecht, Vorsitzender des LiteraturRat NRW, der den Taler überreichte.
Eine Menge der alten Wegbegleiter*innen, immerhin aus 45 Jahren, waren gekommen. Und eine Menge waren nicht gekommen, für die das "Taranta" jahrzehntelang eine Heimat gewesen ist: Aus Gründen ... aus Gleichgültigkeit. Oder am Ende wegen der Gesundheit? Okay. Hey, klar: Wir werden nicht jünger.
Wie auch immer. Der Abend war bewegend und sehr besonders. Ehrlich, authentisch und so, wie das "Taranta" eben ist. Kemal Dinc sang sanfte und kämpferische Melodien und zupfte die Saiten - das Publikum kämpfte hier und da und überwiegend mehrheitlich mit den Tränen. Und Astrid Petermeier, Autorin und Wegbegleiterin, stellte mit zwei Mitstreiter*innen Texte von Autor*innen vor, die im Lauf der Jahre im Taranta auf der Lesebühne standen.
Es waren viele.
Und es waren große.
Es wäre schön ..., ach, sagen wir: Wenn wir in fünf Jahren wieder im Taranta Babu in der Dortmunder Humboldtstraße sitzen dürften. Gedichten und der Musik lauschen. Und träumen ...
10. September 2024
GEDICHT ZUM DIENSTAG
Nachtkinder in hohen Hüten
Da liegen sie und täuschen
sich’s vor; sie seien im
Schlaf schon versunken im
Heben des Brustkorbs und Senken
dem Flattern der Unwucht des Pulses.
Die Häuser sind nicht
unterkellert hier über jedem
steht am First der Mond
wie der helle Leib eines Vogels.
Am Straßenrand stehn
die Nachtkinder Spalier.
Schaun hoch. Die Haut
der hohen Hüte flattert rot im Wind
im Fenster am Kirchplatz
hält der Kaplan die schlanken Finger
ganz im Geheimen warm zwinkert
Kristalle unter dem Glanz
der gelben Lidwimpern fort.
Ursula Maria Wartmann: "Nachtkinder in hohen Hüten" edition offenes feld 2023
und außerdem heute:
Schicht bei Schulte-Witten!
Nach fast zweieinhalb Jahren als Lesepatin habe ich mich mit der heutigen Lesung (mit Annika Hofmann) aus diesem beliebten Projekt in Dortmund-Dorstfeld verabschiedet. Der Literatursalon zu den unterschiedlichsten Themen wird von Claudia Vennes wunderbar betreut, und ich gehe durchaus mit einem weinenden Auge. Aber - times are changing - im Alter muss mit den Kräften, seufz!, gehaushaltet werden.
Danke. Es war eine schöne Zeit!
7. September 2024
Ehrenring für Hasan Sahin
Nun hat er ihn endlich auch, und das hochverdient: Hasan Sahin, Schöpfer und Bewahrer des "Taranta
Babu" in der Humboldtstraße, ist Träger des Ehrenrings der Bezirksvertretung Innenstadt West der Stadt Dortmund. Das Taranta besteht seit 45 Jahren, ist Bücherstube, Café, Versammlungsort
und Bühne für Poetry, Prosa, Musik ... Und ist und war für unzählige Menschen unzähliger Zungen und Herkünfte so etwas wie eine warmherzig-heitere Heimat.
Wir freuen uns so sehr mit Hasan und seinen engsten Mitstreiter*innen. Und natürlich mit den anderen jungen und älteren Preisträger*innen, die an diesem wunderbaren Tag im sensationellen
Bürgerhaus "Pulsschlag" in Dorstfeld Preise entgegennahmen: Im Zeichen von Toleranz, von Liebe, von Miteinander.
Glückwunsch & Glück auf! Weiter so! Wo das geht, geht alles!
Die Neige des Sommers
Durch königsblauen Himmel
reiten schneeweiß Flocken
hochkant auf Cumuluswolken treibt
Sonnenglitzern wir streichen
das Haus der Bienen mit frischem Kalk.
Der Königin bereiten wir ihr Bett
aus feurigem Mohn dem
verblichenen Samt der Rosen die plaudernd
welken im leisen Wind derweil die Welt
im Strudel sich dreht
tauchen wir Zucchinisplitter in siedendes Öl und
rupfen lächelnd die Dolden der winzigen Beeren.
Der Wein steht bereit wir haben
die Flugblätter abgeworfen die Gewehre
geladen für den Fall kommt lasst uns
die Neige des Sommers
noch kosten und Pläne
schmieden
für’s Danach.
2. September 2024
GEDICHT ZUM DIENSTAG
aus Ursula Maria Wartmann: "Nachtkinder in hohen Hüten", edition offenes feld 2023
31. August 2024
Nachtrag: Halberstadt
28. August 2024
Nachtrag: Goslar mit der Kaiserpfalz
Dem Herrscher das Kind!
27. August 2024
GEDICHT ZUM DIENSTAG
Eifeldüsternis
Über den Gräsern wiegt sich Nebel hell in der Hüfte
in der Schlucht läuten die Zwerge rotwangig
den Abend unter den Wurzeln
der alten Rotbuche ein nach der Talbrücke
leuchten Häuser im Abendweiß
poltert Regen aufs Autodach
das Drängen der Kühe gegen die Hecke der Ginster
tupft sein Gelb ins Grau wir frösteln während
die Landschaft im Saunagang dampft Bremslichter
drängeln ruckelnd durch Kurven bald
sind auch wir am Ziel.
Konvoi der Limousinen vor grauem Himmel.
Eifeldüsternis.
Windräder quirlen graues Gewölk.
aus Ursula Maria Wartmann: "Nachtkinder in hohen Hüten" edition offenes feld 2024
23. August 2024
Harzreise
Sachsen-Anhalt: Grenzlandmuseum Sorge - outdoor / indoor.
Und immer wieder unterwegs die schrecklichsten Waldschäden. Kilometer um Kilometer kahle Fichten, im Tal, auf den Höhen ..., Opfer der Dürre, der Borkenkäfer, der
Wehrlosigkeit angesichts der Klimaveränderung. Es ist geradezu gespenstisch. So etwas habe ich noch nie, noch nirgendwo in diesem Ausmaß gesehen.
22. August 2024
Harzreise
Clausthal-Zellerfeld
21. August 2024
Harzreise: Auf dem Rückweg
Zisterzienser-Kloster Amelungsborn bei Stadtoldendorf.
20. August 2024
GEDICHT ZUM DIENSTAG
aus Ursula Maria Wartmann: Nachtkinder in hohen Hüten, edition offenes feld 2023
Wolken
Die Wolken steigen aus
der hohen Ewigkeit fallen
lautlos wie Fallschirme
nach unten hier und da
ein zögerndes Schweben dann
sind sie gefunden:
Schornsteine, Fensterritzen
schmaler Spalt im Mauerwerk.
Sie tasten sich durch
Häuser und Zimmer legen
sich zum alten Mann zur Katze
kriechen unter die Augenlider der Hunde
und Kinder und Mütter kriechen in Kehlen.
Schließlich sind
alle tot.
Es geschah dies im Auftrag.
Die Erde dankte mit wildem Wuchs
und herrlichen Tieren.
19. August 2024
Glückwunsch, Hasan!
So verdient!
11. August 2024
Lyrik in Osterode
Ein ganzer sonnenwarmer Sonntag im Zeichen der Lyrik: Das geht in Osterode im Harz, wo sich im Kurpark und der Stadthalle nebenan einmal im Jahr Dichter und Dichterinnen zusammenfinden, ihre Werke vortragen, mit dem Publikum diskutieren, Bücher signieren und - ganz wichtig! - auch Kolleg*innen treffen, die man vielleicht bis dahin nur aus dem Internet kennt.
Spannend war's! Großer Dank vor allem an die Initiatorin Renate Maria Riehemann vom Verein "Lyrik lebt", allen anderen Mitstreiter*innen und der Stadt Osterode, die sich zunehmend zum Lyrik Hotspot entwickelt. Es war ein bisschen Auftanken, die eigene Position überdenken, Kräfte neu bündeln. Es war friedlich, freundlich, warmherzig. Und auch der selbstgebackene Kuchen war, was sonst, ein Gedicht ...
9. August 2024
Großes Finale
im Tonstudio.
Jan Primke und ich nehmen letzte kleine Verbesserungen vor. Und dann ist alles im Kasten.
Unten die Links zum Anklicken.
Und dann: zurück lehnen, die Äuglein zu. Und hören.
Maria Braig und ich wünschen dabei viel Spaß.
Mehr zu unserem gemeinsamen Kinderbuch bei facebook auf der Seite "Drei Kinder und ein kleiner Hund".
8. August 2024
Danke an Gülten und Cüneyt!
Großartig!
Bei euch im Biercafé West sind auch die Bierdeckel gegen rechts.
Sonnenuntergang
Es ist die Zeit der orangeroten
Fensterkreuze die Teller sind aufgedeckt
das Brot ist geschnitten das Tagwerk getan.
Am Tisch leuchten
müde Münder
verschweigen die Verbrechen
sprechen von Plänen für morgen
und
der Wahrscheinlichkeit von Glück
während
die Abendsonne ihre Teller füllt.
Fabelwesen sind wir die mit Löffeln essen
und mit Gabeln die Welt der Wünsche
in Portionen teilen lächle nicht sonst
wirst du nicht ernst genommen
draußen am Fluss wandern Schatten
gemessen den staubigen Pfad entlang
kein Mensch
ist da der sie wirft.
Schiffsmasten durchneiden den Himmel.
Messer mit scharfen Klingen.
6. August 2024
GEDICHT ZUM DIENSTAG
aus Ursula Maria Wartmann: Nachtkinder in hohen Hüten, edition offenes feld 2023
"Wenn wir aber Menschen wären oder sein wollen, sollten Männer die Sprache der Frauen so gründlich erlernen, wie die Frauen seit je und von Kindheit an die Sprache der Männer erlernen müssen."
aus: „Das weibliche Ich“, 1976 von Christa Reinig (1926 - 2008)
Das hat mich gerade, Zufallsfund im Netz, aus den Socken gehauen. So früh, so hellsichtig. So - leider - immer noch aktuell.
5. August 2024
Podcast bei Jan Primke
Im Tonstudio habe ich heute einen neuen Podcast eingelesen. Vier Folgen gibt es demnächst bei spotify & Co. zu "Drei Kinder und ein kleiner Hund" - jeweils zwanzig Minuten.
Außerdem ist auch unsere Facebook-Seite immer informativ. Sie heißt ... - erraten: Drei Kinder und ein kleiner Hund.
Gefördert wurde der Podcast vom Kulturbüro der Stadt Dortmund. Vielen Dank dafür!
4. August 2024
Marburg an der Lahn
Mal wieder eine kleine Fotosafari in der Stadt, in der ich lange Jahre gelebt und studiert habe. Die Tourist*innenströme sind nicht weniger geworden - malerisch ist
es wie eh und je.
Im Archiv gibt es mehr Fotos für Marburg-Fans.
Hier klicken und auf das Datum scrollen:
31. Juli 2024
Walnussbecher in Witten
Unsere Lieblingseisdiele in Dortmund-Kley war geschlossen - google gab uns den Hinterhof-Tipp in der Stadt nebenan.
Hatte was!
30. Juli 2024
Neu in der Rubrik Reisefieber:
Schleswig
und ein winziger Schlenker nach Dänemark rüber.
Hier klicken:
Marienaltar-Triptychon im St. Petri Dom zu Schleswig
von Max Kahlke 1927
Himmel !!!
Sind das nicht Günter Grass und Jörg Hartmann (Tatort Dortmund)?
Ja, nee ...Kann eigentlich nicht, oder?
Oder doch?!!?
27. Juli 2024
"Lyrik lebt"
und das seit 2021 in Osterode im Harz. Gründungsmitglied und Vorsitzende Renate Maria Riehemann hat sich neben vielen weiteren Aktivitäten ein besonderes Bonbon ausgedacht: Einmal im Jahr werden Dichter und Dichterinnen von nah und fern in den Lyrischen Garten eingeladen, um zwischen alten Bäumen und sprudelnden Brunnen ihre Kunst vorzutragen und mit dem lyrikaffinen Publikum ins Gespräch zu kommen. Der Eintitt ist frei, es wird um Spenden gebeten. Selbstredend kann man auch Bücher erwerben und signieren lassen. Bei Regen geht's ab in die Stadthalle gleich nebenan. Null Risiko also beim Besuch des Lyrischen Gartens ...
Mehr unter lyrik-lebt.de.
23. Juli 2024
GEDICHT ZUM DIENSTAG
Am Feuer
Ich fege im Forst
des Grafen
das Laub ich kehre
die staubigen Nadeln
der Kiefern
ich halte
mit spitzen Lippen
das knackende Feuer wach.
Ich lege Zapfen nach und
schärfe mein Fühlen mit
Wein bis das Knacken qualmt
dann erlischt gut so bin ich
unsterblich bin ich müde kann
schlafen gehn.
aus Ursula Maria Wartmann: Am Ende der Sichtachse, edition offenes feld 2022
20. Juli 2024
Wallfahrten in Werl
Knapp 30 Minuten von Dortmund entfernt - und ein völlig anderer Film. Die imposante Wallfahrtsbasilika lädt Pilgernde von nah und fern zur Anbetung der Muttergottes
Maria ein; man kommt per Pedes, PKW und Bus. Oder ist mit dem Radl da ... Heute verlief auch die NRW-Radtour durch Werl: 1400 Menschen hatten sich dazu angemeldet und waren auch da - trotz weit
über 30 Grad. Chapeau!
Im Tonstudio von Jan Primke gab es schon einmal eine wunderbare Zusammenarbeit, als ich Lyrik dort eingelesen habe.
19. Juli 2024
Drei Kinder ...
und ein kleiner Hund - auf unserer Facebook-Seite haben wir es schon angekündigt . Demnächst kann man vier Folgen als Podcast hören, die ich im Tonstudio einlesen werde.
Eine Facebook-Seite für unser Kinderbuch, die immer wieder gerne aufgerufen wird.
16. Juli 2024
Der Knappenberg in Oberhausen
und weitere Oberhausen-Erinnerungen ... (Vielleicht macht das Alter ein wenig sentimental). Unter der Rubrik Textproben: "Heimat - alles passt!" gibt's mehr zum Thema Heimatstadt.
Und hier mehr zum Thema Knappenberg:
Einfach klicken und runterladen.
12. Juli 2024
Grillen unterm Sonnenschirm ...
macht Spaß!
Auch wenn's regnet, die Schnecken Schaulaufen, und das Thermometer gerade mal 16 Grad erreicht. Hatte trotzdem was.
10. Juli 2024
Die Erde bebte
als Abertausende von Fußball-Fans aus den Niederlanden durch die Stadt Richtung Stadion liefen: "Hup Holland hup" als Mutmachlied auf den Lippen und dieser spezielle von "Rechts-nach-links-Gang" in den Straßen - wie eine Wellenbewegung der (noch!) gut gelaunten Massen. Auch wer keine Fan ist - wie ich - konnte sich von diesem Phänomen mitreißen lassen; noch nie waren so viele Gäste (allein gut 100 000 !) aus Holland zu einer Meisterschaft angereist. Aber, ganz wie im richtigen Leben: Schön und nicht so ... liegen nah beieinander.
8. Juli 2024
St. Anthony-Hütte in Oberhausen: Wiege der Ruhrindustrie
Früher, ab 1758, floss hier das erste Roheisen des Ruhrgebiets. Hier und heute erzählen Dauerausstellungen drinnen und draußen vom spektakulären Start der Eisen- und Stahlindustrie und dem Leben der hart arbeitenden Malocher und ihrer Familien.
Momentan sind drei weitere Ausstellungen zu sehen: Draußen "Pottglühen" des Oberhausener Fotografen Carsten Walden. Und drinnen "Heile Welt ...?" - Fotos aus den Bildarchiven des Ruhrgebiets zum Kinderleben zwischen 1900 bis 1960. (Für mich als 1953 in Oberhausen geborenes Nachkriegskind besonders interessant!). Schließlich sind Fotografien aus den 1920er und 1930er Jahren der früh verstorbenen Anne Winterer zu sehen: Sie zeigen Alltagsszenen aus den längst vergangenen Zeiten zwischen den beiden großen Kriegen.
St. Anthony-Hütte: Sehr spannend. Sehr empfehlenswert.
Von Interesse vielleicht auch der unten stehende Text zum Schlackenberg in Oberhausen.
Ursula Maria Wartmann für "fluss_laut" -
die digitale Anthologie des Netzwerks Literatur Rheinland auf
Instagram.
Monte Schlacko sagt man zu ihm. Als sie ihn im vergangenen Oktober in Oberhausen besucht, liegt er da wie ein gestrandeter Wal. Der Knappenberg ist der Berg ihrer Kindheit. Als sie Anfang der 1960er dort zu spielen begann, schien er ihr wie ein schlafender Riese. Es gab Pfade nach oben und junge Birken und ruppige Sträucher. Wildkräuter hatten sich ausgesät, Moose gab es und sperriges Efeu, über das sie und die anderen stolperten, wenn sie sich in aller Eile voreinander versteckten. Von ihren Ersparnissen hatten sie sich Taschenlampen gekauft, in einem Kiosk an der Mülheimer Straße. Die konnte man auf grün und rot stellen und auf Blinklicht, mit dem sie sich vor Feinden warnten – der Bande aus der Straße am Friedhof, die den Monte Schlacko und auch die Henkelmannbrücke für sich haben wollte. Sie kämpften gegeneinander. Sie hatte aus dem Fundus eines Cousins, ein paar Jahre älter als sie, ein Fahrtenmesser bekommen. Es war sehr scharf und steckte in einer Scheide aus hartem, hellem Leder. Sie war stolz drauf und fühlte sich unbesiegbar. Benutzt hat sie es nie.
Schutt und Zementbrocken, Ziegel und Moniereisen waren nach dem Krieg auf den Monte Schlacko verfrachtet worden, dorthin, wo sie jetzt, im Spätherbst, auf gut einhundert Metern über Normalnull in der Oktobersonne stand. Sie hatte davon lange nichts gewusst, erst im vergangenen Jahr zufällig davon erfahren. Das also war der der Berg ihrer Kindertage: ein Schlacke-Abraum-Mix der Zeche Oberhausen und der Gutehoffnungshütte (GHH). Und eine Million Kubikmeter Schutt obendrauf – Trümmer von 10.000 Oberhausener Häusern, die während der Bombardements im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt worden waren. Noch gegen Ende des Kriegs trieb man ein Stollensystem ins innere Mark des Schlackebergs – einen Luftschutzbunker. Auch das hatte sie bisher nicht gewusst. Es gehörte zu dem ungeheuren, monströsen Schweigen der Nachkriegszeit, dass fast alles ungesagt blieb.
Einige aufragende Skulpturen, aus Eisen, aus Stahl, fand sie jetzt vor, Zeichen und Symbole aus Pflastersteinen waren am Berg installiert worden. Industriekultur. Rätselhaft kam sie ihr vor, archaisch. Von dem fünfzehn Meter hohen Aussichtsturm waren Gasometer und Neue Mitte zum Greifen nah. Ein später Schmetterling, ein Admiral, saß auf einem sonnenwarmen Stein. Sie bewunderte seine prägnante Zeichnung, die filigranen Flügel. Seine Unerschrockenheit, als sie die Hand neben ihn legte.
Sie kommt noch einmal zurück, da ist es November; der Tag ist kühl und regnerisch, der Himmel liegt grau wie ein Laken über der Stadt. Es ist kalt geworden, bald beginnt der Advent. Nicht weit von hier, unten in der Schillerstraße, entzündete ihr Vater Jahr für Jahr die erste Kerze am Adventskranz. Kurz vor dem Tod ihrer Großmutter, sie starb 1968, wurden eines Winters plötzlich riesige Mengen an duftenden Orangen in die alte Jugendstilvilla geliefert: „Aus Israel!“ wurde geraunt oder stolz verkündet, eine Sensation jedenfalls. Ihre Großmutter schälte sie mit ihrem Kartoffelmesser, das im Lauf der Jahrzehnte dünn wie eine Rasierklinge geworden war. Breitbeinig saß sie abends in ihrem Ohrensessel, das dunkle Kleid über den Knien, eine selbstgestrickte Decke aus hellem Garn; den Teller mit der Orange hatte sie in den Schoß gestellt. Heute lag sie zusammen mit den anderen im Familiengrab. Katholischer Friedhof, Marienfriedhof, nicht weit von hier. Auch der Name ihres so jung gestorbenen Sohnes war dort in Stein gemeißelt; Willi war im Krieg gefallen, in Russland.
Es hatte noch eine Klarinette von Onkel Willi gegeben. Halbherzig hatte sie damals versucht, sie zu spielen, hatte die Lippen nachdenklich um das Mundstück gelegt. Auf einem Foto – wer hatte es gemacht? – war Onkel Willi zu sehen, wie er in dem Wohnzimmer, in dem sie sich selbst später am Klavier versuchte, in einem schweren Sessel saß, eine Zigarette rauchend, sein rechtes Bein über der Lehne, und vergnügt in die Kamera lachte. Komplize. In dieses Gesicht hatte sie sich das erste Mal in ihrem Leben verliebt ... Da vorn, die zwei Türme der Marienkirche. Dort hatte sie genau wie ihr Onkel und die anderen die Erste Heilige Kommunion erhalten. Nachts hatte sie das Foto ans Herz gedrückt; sie hatte es heimlich aus dem Album genommen. Niemand hatte je wieder danach gefragt.
Als sie die Trümmer zum Berg schafften, war sie noch nicht auf der Welt. Sie schütteten den Berg mit Bauschutt und Bildern und zersplitterten Schränken und zerbeulten Töpfen und Steinbrocken und vielleicht auch den Kinderbüchern von jenen zu, die im Schützengraben die Stirn in die schwarze Erde drückten. Aus denen dann damals das Leben entwich – wie ein Hauch über den Wassern von Rhein und Ruhr.
***
... und weiter nach Rees am Niederrhein, uraltes Hansestädtchen von 1228, am 16. Februar 1945 von den Alliierten zu 76 Prozent zerbombt. Es war kaum möglich, die brennende Stadt zu löschen - zu viele Häuser standen in Flammen. Zudem war die örtliche Feuerwehr nicht vor Ort; sie war an dem Tag in im Einsatz in ... Oberhausen!
... und dann noch der Besuch von Orsoy mit seinem malerischen Zentrum. (Unterwegs ein uralter Friedhof; die Halde Rheinpreußen; zur Nacht der Blick
auf die mächtige Skulptur "Rheinorange" inmitten der Industriekulisse - genau dort, wo Rhein und Ruhr sich treffen). Früheste Erwähnung Orsoys in einer Urkunde der Abtei Hamborn um
1200.
Duisburg liegt direkt auf der Rheinseite gegenüber, von hier aus mit der Fähre wunderbar zu erreichen. Neben dem umstrittenen Steinkohlekraftwerk liegt eines der
besten Fischrestaurants ever, jawohl: Der Walsumer Hof. Eine spannende eher bizarre Kulisse im momumentalen Schatten des Kraftwerks. Ach, Vater Rhein: längster und sagenumwobenster Fluß
Deutschlands. UNESCO-Welterbe mit dem Oberen Mittelrheintal. Kein Fluss wurde mehr besungen.
3. Juli 2024
Sommer auf dem Balkon