Es ist die reine Freude. Wer sich in das landläufige lexikon von Christoph Wenzel vertieft, sollte dies mit Zeit tun und der Bereitschaft zum Genuss an einer sehr besonderen Art von Sprache und literarischer Suche. Die Sicht auf die Dinge – auf Landschaften, mehr oder weniger zerklüftet oder beschädigt, auf Kindheit oder den alten Pflaumenbaum, der den Dichter „dauert“ – ist bei allem allgemeingültig Überspannendem kleinteilig und aufs magische Detail fokussiert. Gerne auch aufs Skurrile, wonach man in westfälischer Provinz offenbar nicht allzu lange suchen muss.
„die sondengänger sonntags auf dem acker spüren nach notgeld …
im dorfladen: schrauben und haferflocken, lockenwickler, trauben.“
Idyllen kommen nicht „ohne rasensprenger“ oder „wanderparkplatz und münzfernrohr“ aus – es sind Idyllen, die weh tun, die gebrochen sind, ad absurdum geführt werden durch Accessoires, die dort nicht hingehören. Idyllen kurzum, die den Namen nicht recht verdienen. Die von der Erinnerung an sie leben, vielleicht: „das alles verblüht dir auf der zunge.“
Überhaupt: der Mund. Werkzeug fürs Kauen. Schmecken. Sprechen.
„LÄNDLICH DER MUNDRAUM: die zunge und der weiche gaumen,
die dialekte ziehen sich längs aus der fläche zurück.“
Alles scheint dem Dichter durchmengt mit Platt und der Poesie randständiger Ruhrpott-Provinz. Selbst der Grauschnäpper (gegoogelt: ein 15 Gramm schweres Vögelein) kommt nicht aus seiner Haut bzw. dem Federkleid und
„… presst eine halbe volksliedstrophe aus dem kropf. ein hund
schlägt an auf platt.“
Das ist ironisch bis witzig und in seiner Detailverliebtheit ungemein zärtlich. Man spürt in jeder Silbe, dass Wenzel seine Heimat liebt, und zwar so, wie man ein Gegenüber bestenfalls lieben sollte: alle Ecken und Kanten werden geliebt, alles Schrullige und Widersprüchliche und alles Unvollkommene sowieso.
Sinnlich und prall kommt die Beschreibung einer Hofstelle daher, Drubbel genannt.
Im Anhang, Lexikon eben, des 120 Seiten starken Werks, der bei Bedarf Erklärungen liefert, erfahren wir mehr: ein Drubbel ist ein historischer westfälischer Siedlungstyp mit mehreren Haus- und Hofstätten. Im Wenzel’schen Drubbel laufen Tölen (Hunde) und Blagen (Kinder) herum, sitzt man stikkum (wortlos) am Tisch. Rehkitze im Mais. Geruch nach Stall, Zukunftssorgen, Krümel unterm Küchenstuhl, die Katzen im Hof … Ganze Bilderserien laufen ab, die Gefühle befeuern, Sehnsucht vor allem und Melancholie:
„… der gilb in den
kalenderblättern mit den bauernregeln, ihr zeitlos-
überholter witz – alles bald geschützt.“
Und immer wieder Formulierungen, die schlicht ins Schwarze treffen:
„… DIESE GEGENDEN SIE RIECHEN STRENG
NACH LINOLEUM, beißend, nussig und
nach schweiß, orte, die nur samstag
nachmittag und sonntagmorgens
existieren: asseln, oberraden. massen, …“
„Ungemähte Planquadrate“ gibt es in diesem Landstrich, auf einem davon ist jahrelang ein Autowrack sukzessiv versunken – ein geradezu surreales Bild, was die Verwüstung zeichnet, die sich am Ende der Welt in aller Stille vollzieht. Gleich nebenan der Zeuge Jehovas, „der nicht glaubte, glauben wollte“ – nicht minder eindringlich wie das sinkende Wrack.
„Wolfserwartungsland“ sei man hier, schreibt Wenzel, „Angstland“. Aber vorerst fallen andere über den Landstrich her:
… die städter plündern den erdbeerhof …
und
„… auf den friedhöfen wandeln nachts
die kupferdiebe …“
Die Angst, sie ist ständige Begleiterin, irgendwie. Bäume, die zwischen Waschbeton und Wäschespinnen das Wachsen einstellen, der Birnbaum:
„.. ich … mochte ihn, seine knüppelharten birnen …
… stumme glocken, die
den herbst einläuten …“
Das Kinderelend auf dem Damm. Schulweg und von allen Seiten Gegenwind, der das Kind auf dem Rad zu verzweifeltem Weinen bringt:
„… ach, dies heulen, das ist der wind, ach
kind, hör auf, das ist doch töricht in deinem alter, es sind doch
auch nur elf minuten, wenn du dich beeilst.“
Christoph Wenzel nimmt, flanierend und forschend, nicht nur die Heimat ins Visier, die allerdings den breitesten Raum einnimmt. Auch den Spuren der Droste folgt er kurz. Der Wahlheimat Aachen und, noch kleinteiliger, der Bismarckstraße, da „steht ein Kind wie ein Hydrant, ein Mofa mäht vorbei.“ Dann ist Feierabend „und Autos reisen nach Jerusalem mehrfach um den Block.“
Diese eher spröde Ode an die Bismarckstraße ist großes Kino. Und wenn es nach nebenan, ins so grausam weltkriegsgeschüttelte Belgien, hier nach Flandern, geht, wird es nicht minder sprachgewaltig:
„… im zweifel ist ypern überall. ypern steht jetzt,
wo ypern stand. in ypern wird jeden tag der zapfenstreich geblasen
…im umland von ypern
fahren die bauern aufs schlachtfeld,
wenn sie den acker pflügen.“
Man könnte endlos weiterschreiben und sie preisen: all die vielen Assoziationen und Bilder, die so scheinbar leichthändig daherkommen, so wie nebenbei. Es ist ein Buch voller Tragödien, voll von Schönheit und Liebe und auch von launigem Witz, der – herrlich –Adorno (!) en passant mal eben verballhornt:
„kurz nach fünf werden die stellplätze gesperrt und
container landen an. ab jetzt gibt es hier kein richtiges
parken im falschen mehr.“
Yeah! Das ist gut!
Christoph Wenzel, landläufiges lexikon. Edition Korrespondenzen, Wien 2022
Hardcover mit Schutzumschlag. Fadenheftung mit Lesebändchen.
20 Euro
Danke an den Verlag für das Leseexemplar.
https://faustkultur.de/literatur-buchkritik/
Mit „Manchmal oben Licht“ nimmt die Protagonistin des gleichnamigen Buches Abschied von den alten Eltern. Wehmut und manchmal auch leiser Witz schwingen mit in den Texten voll von Abschiedstraurigkeit“ – als Hommage an den Vater, die Mutter.
Es ist ein Vermächtnis voll lyrischer kurzer Prosa; sie könnte dem Genre Erzählgedichte zugeordnet werden. Selten sind die Texte mehr als gut eine Seite lang, und reich bestückt sind sie mit den Requisiten vergangener Tage: Rosenkränze und Heißwasserboiler, das Fahrrad mit dem Damensattel, die Zigarrenkiste, in der alte Fotos wie ein Schatz gehütet werden.
Die Rückblenden stellt Littau dem Heute gegenüber – macht den geistigen Verfall und das erschütternde Verschwinden zweier Menschen sichtbar, die der Tochter als Kind einmal alles bedeutet haben. Bizarre, nicht durchschaubare Dinge oder Dialoge bestimmen den Alltag:
„Mein Schatz, sagt Mutter zum Abschied.
Das sagt sie sonst nie.
Und Operation sagt sie,
obwohl er nur eine Spritze bekommt.“
Die Trauer, die Hilflosigkeit der Tochter im Hier und Jetzt wird immer wieder sichtbar; ihre Verletztheit auch angesichts von Zurückweisung und Unberechenbarkeit.
„Morgen um acht, sagst du.
Nur wenn du das willst, sagt Mutter.
Wir kommen auch so klar.“
Auf denkbar knappstem Raum wird literarisch eindrucksvoll die komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung vermessen.
„Der Mutterkörper …
Hielt sich aufrecht. Immer.“
Disziplin und Unnachgiebigkeit versus Wärme und Aufgehobensein: Die „Pranken“ des Vaters spielen eine große, gute Rolle, so in „Vaterhände“, dem längsten eher erzählenden Text des Bandes:
„Noch lieber magst du, wenn die Handschaufeln dich aufheben,
er dich auf den Armen trägt, das Gefühl, als umschlössen
die Hände den ganzen kleinen Körper und wärmten ihn.
Auf seinem Schoß umfasst er mit der einen Hand Brust und Bauch,
die andere hält er geöffnet, bis sich die Kinderhand hineinlegt.“
Rückblenden in eine Nachkriegszeit des Aufgehobenseins, in der die Welt von den Eltern noch verstanden wurde und ihnen nicht nur geschah. Grausam, was hinter der folgenden Szene aus „sicher“ vermutet werden muss:
„Du bleibst an der Wohnzimmertür stehen,
siehst zu, wie die Mutter versucht,
in Vaters Krankenbett zu klettern.
Sie hat sich die viel zu große Männerkleidung
übergezogen und mit Gürteln festgezurrt.
…
Ich hab mir das angezogen, sagt sie und zieht an Vaters Jackett.
Weißt du, dann tun sie dir nichts.
Auf jeden Fall nicht so leicht.“
Wer so erschütternd mit den Kriegstraumata der Mutter konfrontiert wird, hat es mit Verstehen und Vergeben vielleicht leichter. Auch mit der Herzenshärte dieser häufig selber so verletzten und beschädigten Müttergeneration, die ja ein Phänomen ist, unter dem viele der Töchter, die in den 1950ern geboren wurden, litten und leiden. Als das Kind sich einmal fast an einem Band stranguliert, das die Mutter ihm nachts anlegt – es soll nicht „barfuß im Nachtpölterchen“ herumgeistern – heißt es nur lapidar:
„Mein Gott, sagt Mutter.
Ich hätte mich ja unglücklich machen können.“
Wimmerwuchs heißt dieser Text bezeichnenderweise; ein lautmalerisches, poetisches Wort, von denen so manches in Monika Littaus Buch zu finden ist: Gefrornis. Wurzelgefühl. Scherbenschmelzen. Auch der Begriff Lumen taucht mehrfach auf – als Einheit für Licht, als Gegenpart zur sich zunehmend ausbreitenden Dunkelheit. Fotos von Littau ergänzen die Texte; sie zeigen abstrakt den vielschichtigen Lichteinfall durch Glas.
„Ein Elternabschied in VII Stationen“ wird von Monika Littau auf 115 Seiten aufgezeigt, der der Tochter alles abverlangt an Kraft, an Liebe und auch: dem Willen zur Vergebung. Aus einem Konglomerat von Gefühlen und Widersprüchlichkeiten, von Gestern und Heute, wurde berührende Literatur gemacht, die am Ende im Angesicht des Todes sogar Trost zu spenden vermag.
„Fast lautlos geht Mutter.
Ihr helft ihr die Augen zu schließen.
Draußen ist frischer Schnee gefallen,
gleißend glänzt er.
…
Stunden später zieht eine Schar Gänse am Himmel,
kehrt zurück zu den Schlafgewässern.“
© Ursula Maria Wartman
Monika Littau „Manchmal oben Licht“, edition offenes feld 2021, Hardcover mit Schutzumschlag.
https://faustkultur.de/literatur-buchkritik/ein-elternabschied/
Keine Frage: Sie ist sich treu geblieben. Nach „Warteschleifen aus Holz“ legt die Lyrikerin Franziska Beyer-Lallauret einen nächsten Gedichtband vor, der erdig und rätselhaft daherkommt. Zweisprachig außerdem: Falterfragmente / Poussière de papillon ist sein Titel; kongeniale Bilder von Johanna Hansen erweitern das Lesevergnügen.
Es geht um Kindheit, um Heimat. Um Natur und Landschaft, um bäuerliches Leben von einst, das die Kindertagträume umhüllte. Um Rückkehr geht es, hier und heute, und immer wieder um Erinnerung.
Wir gehen zurück ins Haus
Klauben Spieldosen aus wurmstichigen Truhen
Glauben gerne wieder an Wesen
Die Federn an hängende Schultern heften
(Aus: „Allerheiligen“)
Jedes der 35 Gedichte, sie sind in sieben deutsch-französische Zyklen unterteilt, kommt ohne Satzzeichen aus. Mögliche Irritation, die auch durch Zeilenumbrüche ausgelöst werden, erweitern und verändern den Horizont, bereichern das Empfinden. Auch der kleinteilige Blick Beyer-Lallaurets lässt immer wieder aufhorchen, wie in „Frommer Wunsch“:
Holzwürmer singen ein knisterndes Lied
Von Häusern wie diesen
… und auch der Verfremdung liegt ein sehr besonderer Blick auf die Dinge zugrunde:
Im Giebel unter den Balken die Treppe
Zieht manchen von uns die Füße fort
Surreale Bilder immer wieder – auch im nächsten großen Thema, der Beziehung eines Ich zu einem Du. In „Euphorie“ wird offenbar Gedankenspielen der Garaus gemacht:
Zehn Zentimeter überm Linoleum
Schweben die schönsten
Verschwendeten Gedanken
Die rupfst du mir aus
Den Schultern sie wachsen
Wie Unkraut sagst du
Das Thema Liebe – immer wieder spannungsgeladen; es geht um Herrschaft, Ohnmacht, Macht und Konkurrenz:
Mich hältst du immer noch für den Garten
Und dich für den Wald
Du kennst meine Finsternis schlecht
Ich kann jetzt den Hexenstich
(Aus: „Übermut“)
Und immer wieder Metaphern, dicht gewebt und treffsicher, kluge ausgeklügelte Bilder wie dieses aus „Trompe-l’oeil“:
… im Weichbild
Halbleerer Häuser am Marktplatz
Wo kalte Frauen in bunten Schürzen wohnen
Das macht vor kalten Frauen schauern. Großes Vergnügen bereitet auch der wortspielverliebte Humor, der immer wieder aufblitzt, frech und blitzschnell. So wie in „Nachlass“:
Blätter stehen in keinem
Letzten Willen werden
Dir folgen übern Jordan
Den Finken geht das vorbei
An den Hinterfedern
Ha! Hinterfedern! So witzig kann Lyrik auch sein! Große Empfehlung.
(c) Ursula Maria Wartmann
„Falterfragmente / Poussière e papillon“ von Franziska Beyer-Lallauret, mit Bildern von Johanna Hansen und einem Nachwort von Patrick Wilden.
Hardcover mit Fadenheftung. Dr. Ziethen Verlag Oscherleben 2022