Theresia Szymanski erzählt aus ihrem Leben
Einführung
Es ist ein helles, heiteres Sommerbild. Eins, wo man schon beim flüchtigen Hinsehen die Wärme der Sonne spürt, die Glocken des Kirchleins zu hören glaubt, das zwischen den Häusern des kleinen Dorfes namens Schlegel hervorragt. Das Gackern der dicken weißen Hennen meint man zu hören, die pickend über die Wiese staksen, das dunkle Rufen der Kühe. Hinten im Bild behäbig und beruhigend imposant das Klostergut mit seinen Nebengebäuden; es ist von einem der zwei mächtigen Klöster in Sachsen verpachtet worden; 1927 war das, der Pächter hieß Georg Schöbel. Gemeinsam mit seiner Frau Maria und zahlreichen Bediensteten bewirtschaftete er das Klostergut. Das waren über 50 Hektar Land in der sächsischen Bauernschaft an der Neiße nicht weit entfernt von der tschechischen Grenze. Görlitz und Zittau waren die nächsten größeren Städte, wo es Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Krankenhäuser und Theater gab.
Man ahnt beim Betrachten des Bildes, wie idyllisch das Leben für die Kinder des Gutes gewesen sein muss. Sieben waren es, die Familie war katholisch. Inmitten der protestantischen Gemeinden eine Besonderheit. Ein Glück nur, dass das Klostergut eine eigene, prachtvoll ausgestattete Kapelle hatte. Theresienkapelle hieß sie; da wurden Messen gelesen, für die Familie und die Handvoll Katholiken, die es in der Umgebung noch gab. Da wurde getauft und gebeichtet. Und da wurde der kleine Ludwig in seinem Sarg aufgebahrt, der freche lustige Bruder, der schon mit elfeinhalb Jahren die Welt wieder verlassen musste.
Das erste der sieben Kinder wurde Theresia getauft. Das kecke kleine Mädchen erblickte am 21. März 1928 das Licht der Welt. Jahrzehnte später zeigt Theresia mir mitten im Ruhrgebiet das Sommerbild ihres geliebten Klosterguts.
„Da“, sagt sie, „über den Ställen, da war die Wohnung der Schweizer, so nannte man die Leute, die für die Rinderzucht zuständig waren. Die kleinen Bauern aus der Umgebung kamen zu uns zum Decken, und wenn der Zuchtbulle unruhig wurde, wurden wir Kinder nach draußen geschickt. Aber es gab ja genug Fenster… Die Schweizer, das war die Familie Wiener. Mit der Tochter, der Elfriede, und den zwei Brüdern haben wir immer gespielt. Über vierzig Milchkühe hatten wir, und die ganzen Kälbchen dazu. So genanntes Herdbuchvieh war das, eingetragenes Zuchtvieh. Über den Stalltüren hingen die vielen Plaketten.“
Lange Jahre nach Theresias Geburt, 1946, ein Jahr nach dem Krieg, entstand dieses Bild – diese helle friedliche Sommeridylle, unberührt scheinbar von dem Entsetzen und dem furchtbaren Grauen des Krieges, der vor nicht einmal einem Jahr zu Ende gegangen war. Und doch malte es einer der Täter.
Als es damals an der Tür klopft, ist es Theresia, die alle nur Resi nennen, die öffnet. Damals ist sie siebzehn Jahre alt. Sie stutzt, erschrickt, ruft eilig nach der Mutter. Dieser ausgemergelte zerlumpte Mensch, der da vor ihr steht, ist ihr ehemaliger Zeichenlehrer. Resi hat im nahen Zittau die Schule besucht. Sie weiß, dass der Herr Lehrer ein Nazi war. Einer von der üblen Sorte, ein eiskalter Funktionär.
Dieser streunende Mensch, der ihrer Mutter in stummem Flehen die Hände entgegenstreckt, hat Durst. Er hat Hunger. Er bittet um ein Stück Brot. Auch Resis Mutter weiß, wer er ist, und was während der Nazizeit aus ihm, dem Lehrer, geworden ist. Sie zögert nur kurz, dann bittet sie ihn herein. „Meine Mutter“, sagt Resi heute, „hat keinem Menschen in Not jemals etwas abgeschlagen. Egal, wer er war.“
Der ausgezehrte Mann bleibt einige Tage. Er ist krank, glaubt Resi, er geht gebeugt wie ein sehr alter Mann, dabei ist er um die fünfzig. Vielleicht drückt ihn die Last seiner Schuld. Irgendwann fragt er Maria Schöbel, ob er sich irgendwie erkenntlich zeigen könne. Maria Schöbel bittet ihn, ein Bild des Klosterguts zu malen.
Resi läuft in ihr Zimmer. Holt Zeichenpapier, ihren Tuschkasten. Es ist das Papier und es sind die Farben, die sie zuletzt im Zeichenunterricht benutzt hat. Damals in der Schule in Zittau. Im Unterricht bei dem Mann, der nun mit zitternden Händen danach greift und mit schlurfenden Schritten erst über den Kiesweg und dann quer über die bunte Sommerwiese läuft. Die dicken Hennen schreien und gackern und stieben auseinander, als der Zeichenlehrer an ihnen vorbeikommt. Er hockt sich schwer auf einen Baumstamm, legt den Block auf die Knie. Nimmt mit den Augen Maß. Setzt den ersten Strich aufs Papier. Diesmal malt er – einen Sommertag, wie er glücklicher nicht sein kann. Er malt Stunde um Stunde, bis spät am Abend die Dämmerung über das kleine Dorf nahe der tschechischen Grenze fällt. Als das Bild fertig ist, übergibt der Mann es an Maria Schöbel und dankt für die Gastfreundschaft.
Niemand vom Gut Klosterhof hat ihn je wieder gesehen.
Heute hängt das Bild an der „Familienwand“ in Theresia Szymanskis Zimmer. In dem gemütlichen Reihenhaus aus den fünfziger Jahren, in das sie vor dreizehn Jahren zu ihrem Lebensgefährten Gert gezogen ist, sitzen wir an einem Samstag im Januar 2009, um Resis Geschichte aufzuschreiben. Unser erstes Treffen, dem so manche folgen werden.
Das Bild des Zeichenlehrers hat sie von der Wand genommen und vor uns auf den Schreibtisch gelegt. Es setzt Erinnerungen in Gang. Genau wie die Fotos, schwarzweiße Bilder mit kleinen vergilbten
Zacken am Rand.
Hier im Ruhrgebiet, genauer: In Marl am nordwestlichen Rand des Ruhrpotts zum Münsterland hin, ist Theresia Szymanski Mitte der fünfziger Jahre gelandet. Hier im Pott, wo die Leute rau aber herzlich sind, nannten sie alle nur Tresken. Doch das ist wieder eine ganze andere Geschichte.
...
Kapitel 5
1940. Krieg mit Frankreich. Resi besucht in Zittau die Oberschule. Neben dem alltäglichen Grauen geht eine Art normales Leben weiter. Schule gehört dazu. Die täglichen beschwerlichen Wege bei Wind und Wetter auf dem Rad. Tragödien gehören dazu, die sich jenseits von Krieg oder Frieden abspielen. Wie der Tod von Ludwig, der zwei Jahre zuvor heimlich im Schuppen geraucht und sich vor lauter Angst am Heiligen Abend vor dem Knecht Ruprecht versteckt hat. Er fährt im Winter mit den Skiern über einen Baumstumpf und stürzt. Einige Zeit später liegt er krank im Bett, klagt über diffuse Bauchschmerzen. Der Arzt tippt auf eine Blinddarmentzündung. Eine folgenschwere tragische Fehleinschätzung.
Der Junge wird nach Seitendorff in ein Krankenhaus gebracht; im nahen Zittau sind die Kliniken mit Verwundeten belegt. Es wird eine Operation anberaumt; ein Dienstag ist das. Der Blinddarm ist verwachsen, eine Bauchfellentzündung hat wohl die Schmerzen verursacht.
Am Freitag ist das Kind schon tot.
Die ganze Schulklasse kommt in die Kapelle zur Beerdigung – so viele Leute und Kränze, und niemand versteht so richtig, dass Ludwig tot sein soll. Ludwig doch nicht! Der wilde lustige Ludwig, der so gerne im Kuhstall war, der jeden einzelnen Namen der Kälbchen wusste. Der Landwirt werden wollte wie sein Vater, dem der Beruf des Bauern sozusagen in den Genen lag.
Die Eltern sind am Boden zerstört. Am schlimmsten leidet der Vater. Ludwig war seine Zukunft, und Ludwig ist nun tot. Dabei sollte er mit vierzehn doch sein erstes Reitpferd kriegen. Alles, alles war nun zunichte gemacht. Sein geliebter Sohn war keine zwölf Jahre alt geworden.
„Da rückte ich dem Vater näher“, sagt Theresia leise. „Ich war ja das älteste Kind. Seinen Stammhalter gab es nun nicht mehr. Ich war zwar ein Mädchen, doch von da an hat er mich überall mit hin genommen.“
Sie fährt mit nach Westpreußen, in die Nähe von Deutsch Eilau, eine Cousine des Vaters lebt dort, sie besitzt eine Apotheke, wird sich nach dem Krieg mit ihrem Mann wie auch Theresia im Ruhrgebiet ansiedeln. Man besucht eine riesige Rinderversteigerung; der Vater bietet mit und ersteigert schließlich einen prächtigen Zuchtbullen, der später per Eisenbahn aufs sächsische Klostergut gebracht wird.
Resi begleitet ihren Vater, wann immer es geht. Ihre Mutter, glaubt die Tochter irgendwann zu spüren, ist ein bisschen eifersüchtig; sie selbst hat schließlich nicht oft die Gelegenheit, das Gut zu verlassen. Als die Mutter für zwei Wochen ins Krankenhaus muss, ist es wieder Resi, die Älteste, die in die Pflicht genommen wird. Sie wird von der Schule befreit: „Und dann habe ich mich um die Geschwister gekümmert, und Ursel, unsere Wirtschafterin, hat den Haushalt geschmissen!“
Wenn Resi aus der Schule kommt, meistens zwischen 14 und 15 Uhr, wartet das Schwesterchen Elisabeth schon auf sie. „Sie hat kein Essen angerührt, bis ich zu Hause war“, erinnert sich Theresia. „Wenn sie mich sah, klatschte sie in die Hände. Und ich habe sie in ihr Kinderstühlchen gehoben, mir mein Essen aus der Ofenröhre geholt und sie mit allem gefüttert, was sie haben wollte.“
Dazu gehört auch das Backen. Das verläuft anders als heutzutage – den Grundteig stellt der Bäcker her. Resi liefert, wenn der Teig fertig ist, die Zutaten in die Bäckerei: Mohn und Quark, Streusel und Äpfel oder Pflaumen. Damit wird der Kuchen – oft sind es vierzig Platten und mehr – belegt und in den großen Öfen des Bäckers fertig gebacken.
Derweil geht der Krieg weiter, Schreckensnachrichten und Triumphgeschrei, tiefste Verzweiflung und euphorische Siegesgewissheit … Auf dem Klostergut treffen weitere Kriegsgefangene ein, viele Franzosen. Eine Polin, erzählt Theresia, hat derweil ihr Herz an Andreas verloren, der schon lange als Kutscher bei den Schöbels ist. Auch Andreas verliebt sich; die beiden werden ein Paar.
Dann wird der Schweizer, zuständig für die Rinder, einberufen. An seine Stelle tritt ein Franzose. Man verständigt sich mit Händen und Füßen; malt auch einmal auf Papier oder mit der Fußspitze in den Sand, was man meint. Einer der Gefangenen ist Maurer. Neben dem Zimmer, das Resi mit einer Schwester bewohnt, wird in dieser Zeit von dem Mann ein richtiges Badezimmer eingerichtet: „Mit einer Wanne auf Füßen und einem Kohleofen und allem drum und dran. Und einem wunderbaren Terrazzo-Boden, das weiß ich noch wie heute!“
Die Tage gehen ins Land.
Die Monate.
Die Jahre.
1942 ist Resi Schöbel vierzehn Jahre alt. Abends sitzt sie oft mit dem Vater vor dem Volksempfänger. Um 22 Uhr hören sie englische Nachrichten. Das ist bei strengster Strafe verboten, viele tun es trotzdem. „Mein Vater meinte, dass man beide Seiten hören müsse, um zu urteilen“, sagt Theresia. „Und er hatte natürlich recht. Wenn jemand ihn verpfiffen hätte, wäre er hinter Gittern gelandet, vielleicht sogar gleich im KZ.“
In ihrer Umgebung hatte man sich an den Krieg gewöhnt, irgendwie gewöhnt sich der Mensch an alles. Man hatte sich in all dem irgendwie eingerichtet.
Trotzdem ist der Vater erklärter Hitler-Gegner. Er will nicht, dass seine Älteste in offizieller Funktion mitmacht, wenn an der Oberschule die Hakenkreuzfahne gehisst wird. Lange verbietet er ihr, die Jungmädchen-Uniform des BDM (Bund deutscher Mädchen) zu tragen. Resi leidet darunter. „Ich musste ständig zum Direktor, musste mich erklären. Auch, wieso meine Noten immer schlechter wurden. Das war natürlich Schikane, wirklich verschlechtert hatte ich mich nicht.“
Dann, eines Tages, ein Aushang in der Schule in Schlegel: Am Sonntag Aufnahme von Jungmädchen in den BDM. Das Aufnahmeritual soll in dem großen Saal einer Gastwirtschaft stattfinden. Und dann die Überraschung beim Mittagessen mit der Familie. „’Du kannst ja mal fragen ob sie dich aufnehmen!’“ hat mein Vater auf einmal gesagt. Ich denke, er hat gespürt, dass ich diese Situation nicht mehr lange aushalten würde, er hat gedacht, das schafft sie nicht mehr lange, dieses Dasein als Außenseiterin. Und dann auch noch die Angst um die Zensuren. Das war ganz einfach zuviel. Und da hat er seinem Kind zuliebe diesen Vorschlag gemacht, der eigentlich vollkommen gegen seine Prinzipien war.
Am Sonntag steht Resi im Saal der Gastwirtschaft. Ein bisschen zappelig. Aufgeregt. Ein Hitlerjunge, ein 17-jähriger Verehrer von ihr, „der hatte Einfluss, der war ein so genannter Stammführer, war zuständig für Schulungen und Betreuung und trug als hohes Rangabzeichen die weiße Schnur“, sorgt dafür, dass sie bei dem Aufnahmeritual zu den ersten gehört und das Ganze problemlos über die Bühne geht. „Kurz darauf“, sagt sie mit einem lakonischen Lächeln, „hatte ich meine BDM-Uniform. Und wie von Zauberhand wurden auch meine Zensuren wieder besser!“
Auch wenn sie weiß, dass der Vater eigentlich dagegen ist: Die Gemeinschaft tut ihr gut. Jetzt gehört sie endlich dazu. Und: Sie haben nichts Unrechtes getan in dieser Gruppe damals dort unten in Sachsen, sagt Theresia. Gestrickt haben sie. Strümpfe für die Soldaten. Oder Handschuhe. Sammlungen haben sie in den Haushalten und Höfen organisiert: Jedes noch so winzige Stückchen Leder oder Fell war kostbar. In langen Stunden nähen sie die Flicken zu Fausthandschuhen zusammen – für die Soldaten, die in der eisigen Kälte Russlands in den Schützengräben liegen und um ihr Leben bangen. Als Laienhelferin lernt sie es außerdem, Wunden zu versorgen, Verbände anzulegen. Ihr ist klar, dass sie dieses Wissen im Ernstfall wird einsetzen müssen.
„Und dann haben wir Lieder gesungen und sehr viel sportliche Sachen gemacht. Wettkämpfe – ein Dorf gegen das andere. Leichtathletik, Geräteturnen. Ich kann noch heute am Barren die Schraube.“
Der Verehrer wirbt um sie. Sonntags holt er Resi mit Pferd und offener Kutsche zum Ausflug ab. „Aber“, sagt Theresia, „mein Herz fand nicht zu ihm. Und dann waren ja auch meine Eltern dagegen, aber nicht nur aus politischen Gründen. Er war ja evangelisch, und dann war auch mit seiner Familie nicht die beste Übereinstimmung. Er meldete sich freiwillig zum Militär und schrieb mir Briefe, die er zu Mutter Schmidt schickte. Das kam natürlich raus!“
Dann kam, erzählt Theresia, die Nachricht, er sei vermisst. Erst später habe sich heraus gestellt, dass er diese Nachricht nur lanciert hatte – eine Inszenierung, um Eindruck zu schinden, vielleicht bei seiner Angebeteten Gefühle zu wecken. Nach seiner Gefangenschaft landete der ehemalige Hitlerjunge aus Sachsen in Coburg. Lehrer wurde er dort. Bei einem Besuch in der alten Heimat besuchte er auch die Schöbels.
„Ich war schon schwanger“, sagt Theresia, „aber er machte mir einen Heiratsantrag. Ich sollte mit ihm kommen, aber ich liebte ihn immer noch nicht. Es gab schon längst einen anderen!“
Die Winter waren immer hart dort unten in Sachsen; besonders hart, erinnert sich Theresia, sei der Winter 1944/45 gewesen. Zur Schule nach Zittau – von Schlegel immerhin 25 Kilometer entfernt – werden die Kinder ein Stück mit dem Kastenschlitten kutschiert, bis zur Bahnstation müssen sie noch einen steilen Berg hinunter bis ins Neißetal. Dort geht es über die Brücke nach Rhonau, von wo endlich der Zug los fährt.
„Der Schlitten war immer gerammelt voll, die Leute standen teilweise sogar auf den Kufen, weil ja neben uns auch viele andere aus dem Dorf in Zittau lernten oder arbeiteten“, sagt Teresia. „Einmal waren wir einige Tage komplett eingeschneit, da ging gar nichts mehr. Alle Männer mussten Schnee schaufeln. Der Ostwind wehte unaufhörlich. Und einmal“, sie lacht bei der Erinnerung, „waren wir Kinder so laut und ausgelassen, dass mein Vater, der an dem Tag den Schlitten fuhr, ziemlich ärgerlich wurde und so stark in eine Kurve ging, dass der ganze Schlitten umkippte. Das war seine Strafaktion. Na ja, er hat uns dann trotzdem mitgenommen, und wir waren danach natürlich ziemlich kleinlaut!“
Täglich kommen weiter Flüchtlinge an, sie kommen ins Dorf, sie kommen auf den Hof. Es sind aber nicht die großen Trecks, kleine Gruppen sind es, einzelne abgerissene erschöpfte Menschen mit heruntergekommenen Wagen, an denen oft sogar die Bremsen fehlen. Sie kommen an, halb verhungert, dreckig, erstarrt, traumatisiert von den Bildern, die sich ihnen ins Gedächtnis gebrannt haben. Die sie nie wieder loswerden sollen. Auf dem Klostergut können sie zur Ruhe kommen, essen trinken. Reden vielleicht.
„Es gibt sogar“, sagt Theresia, „einen Brief von einem Flüchtling, der nach vielen Jahren meinem Vater für seine Hilfsbereitschaft dankte.“
Und dann schreibt man den 13. Februar 1945.
„Vater hat uns geweckt. Wir standen im Hoftor, hörten das weite Grollen und Donnern. Der Himmel hatte sich rot gefärbt. ‚Man wird noch in hundert Jahren weinen!’ hat mein Vater da gesagt.“
Was sie da brennen sahen, war Dresden.
Da wurde Dresden in Schutt und Asche gebombt.
Etwas später wird die 17-jährige Theresia nach Zittau ins Krankenhaus gebracht. Leistenbruch. Unablässig werden in diesen Tagen Luftangriffe geflogen. Angst ist ein ständiger Begleiter. Todesangst. Die frisch Operierten werden als letzte in den Luftschutzkeller getragen. Bettzeug, Wäsche und Handtücher hat Theresia von zu Hause mitgebracht: Die Ausstattungen der Krankenhäuser sind auf ein Minimum geschrumpft. Alles, was eben verfügbar ist, wird für Feldlazarette gebraucht.
Als Theresia im März zurück nach Hause kommt, ist sie sehr geschwächt. In der Ferne hört man das unaufhörliche Stakkato des Kanonendonners. „Da hat man gemerkt, dass der Krieg so langsam direkt vor der Haustür war.“
Ende April – das offizielle Kriegsende ist der 7. Mai 1945 – wird zur Flucht aufgerufen. „Jeder wusste“, sagt Theresia, „wie die Russen tobten. Meistens brannten sie alles nieder. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, niemand blieb ungeschoren.“
Der Aufruf läuft, obgleich die Welt rundherum in Scherben fällt, generalstabsmäßig ab. Die Nazis machen ihre Sache wie üblich gründlich.
„Die Nazis haben befohlen, das Dorf wird geräumt. Tag und Uhrzeit wurden festgelegt. Und das Dorf wurde geräumt. Frauen, Kinder und ein paar alte Männer versammelten sich auf der Dorfstraße. Manche hatten Pferd und Wagen dabei. Doch Vater weigerte sich, das Klostergut zu verlassen. ‚Wir haben tiefe Keller, die uns Schutz geben!’ hat er gesagt. Die drei Kleinsten, Adelheid, Riga und Elisabeth, die zwischen sechs und neun Jahre alt waren, sind bei ihm geblieben. Und natürlich meine Mutter. Und viele Alte aus dem Dorf, die nicht mehr konnten.“
Auf dem Gut wird der Kastenwagen beladen: Vorräte für die Flucht der anderen. Mehl, Zucker, Speck, Wurst. Trinkwasser. Und Wäsche, Betten und Seife. Der Wagen ist brechend voll. Alles wird genau aufgelistet. „Mein Vater“, sagt Theresia, „hat mir dann die Liste gegeben. ‚Teil alles gut ein’, hat er mir gesagt. Und dann sind wir gegangen.“
Theresia flieht mit ihrer Schwester Maria und Ursel, der Wirtschafterin, die heute 86-jährig in Zittau lebt. Die drei sind damals in einem Alter, das Theresias Vater umschreibend das „beste Alter“ nennt. Er hält sie für am meisten gefährdet, wenn die Russen kommen. Ihnen zu Seite steht ein 20-jähriger junger Pole, der den Kastenwagen fahren soll. Eingespannt sind zwei Pferde, darunter ein Kaltblüter namens Fritz, der nach einem Unfall ein monströs dickes Bein hat. Dieser Umstand wird später dazu führen, dass ihnen zumindest ein Pferd, nämlich Fritz, erhalten bleibt.
Aus Theresias Erinnerungen:
Die Nachricht kam per Telefon. Zwei unserer Fohlen seien ausgebrochen und auf der Landstraße nach Ostritz unterwegs. Eines habe sich verletzt. Und tatsächlich: Fritz hatte sich beim Zusammenprall mit einem PKW das linke Hinterbein gebrochen. Er wurde mit dem Viehwagen aufs Gut gebracht. Der Tierarzt war skeptisch. Er machte meinem Vater einen Vorschlag. ‚Schorsch’, sagte er, ‚ich mache ein Experiment. Ich gipse das Bein. Vielleicht klappt es ja. Wenn nicht, übernehme ich die Kosten!’
Der Schmied musste eine Art überdimensionalen Barren bauen, Fritz kam dazwischen und wurde mit dem Hinterteil an breiten Gurten aufgehängt. Das Tier hat getobt. Sechs Wochen musste er so hängen, am Bauch war das Fell komplett durchgescheuert. Drei Tage hat er weder gefressen noch gesoffen, in der Zeit färbte sich sein braunes Fell fast weiß. Irgendwann hat er sich in sein Schicksal ergeben. Er stand bzw. hing in dem leeren Kuhstall an dem Barren und war matt und deprimiert. Und dann, eines Tages, kam der große Moment: Der Gips wurde entfernt. Tatsächlich: Der Bruch war zusammengewachsen, allerdings blieb die Bruchstelle so dick wie sein Huf. Danach war es für Fritz wie in der Reha. Er wurde auf die Koppel geführt, gehätschelt und getätschelt und wurde ein gutes, treues Zugpferd mit grauem Fell.
Der Flüchtlingstreck aus Schlegel und dem benachbarten Burkersdorf, der aus gut fünfzig Wagen besteht, windet sich Ende April über die Hauptstrasse des Ortes, führt über die Neiße und dann an den Ausläufern des Zittauer Gebirges ins Sudetenland. Theresia ist blass, als sie in unserem Gespräch nach einer Formulierung sucht, die – vielleicht - diese Flucht beschreiben kann und dann diesen einen schnörkellosen Satz findet.
„Es war die Hölle.“
An diesem Tag ist der weite Himmel von makellosem Blau. Wie wunderbar und ungewöhnlich mild ist dieses Wetter Ende April, wie herrlich die Sonne, die auf die zerfetzten Leiber von mächtigen Pferden und halb verhungerten Menschen scheint, auf die Todesangst derer, die am Wegesrand buchstäblich ins Gras beißen, auf die Schreie und das Heulen, das blanke Entsetzen der Überlebenden. Es ist eine Treibjagd der Tiefflieger auf alles, was sich unter ihnen bewegt. Und was sich unter ihnen bewegt, sind sie alle. Alle, die auf der Flucht sind, nicht nur die Menschen aus Schlegel, um das nackte Leben zu retten.
Es ist Mittag, als die Flüchtlinge das freie Feld erreichen, und damit zum Abschuss freigegeben sind für die, die sich im Recht wähnen, sie wie die Karnickel abzuknallen. „Das hörte nicht auf, bis die Dunkelheit kam. Ich war siebzehn und ohne Vater und ohne Mutter. Und um mich herum sind hunderte von Menschen gestorben.“
Im Schutz der Dunkelheit laufen sie weiter, das ist sicher, aber es ist auch beschwerlich. Es ist eine völlige, eine restlose Dunkelheit ohne den Funken einer Lichtquelle von irgendwoher. Man versucht, eine Art Ordnung wieder herzustellen. So also formiert der Treck sich neu aus denen, die das Glück zu überleben hatten. Maria ist darunter. Ursel. Und auch der junge Pole, der sie so sicher bis hierher gebracht hat. „Wir hatten tausend Schutzengel. Wir lebten. Und dann der Pole, der hätte alles einfach hinschmeißen können. Aber er ist treu bei uns geblieben und hat mit uns im Wagen geschlafen.“
Schließlich erreichen sie eine Ortschaft. Die Pferde können hier grasen, sie finden Wasser. Sie werden von den Menschen im Ort freundlich aufgenommen. Am nächsten Morgen wird ihnen heißer Tee gebracht. Man redet miteinander, dann ist klar, dass der Flüchtlingstreck fürs erste hier bleiben und rasten kann.
Einige Tage gehen ins Land, scheinbar ereignislos, lähmende Tage der Ungewissheit. Zeitungen gibt es schon längst nicht mehr, aber Gerüchte, das Radio: Berlin, heißt es, soll gefallen sein. Dann, am 7. Mai ging, sagt Theresia „ein Aufschrei durchs Dorf. Das ganze Dorf schrie: ‚Der Krieg ist aus!’ Da habe ich voller Erleichterung gedacht, jetzt geht es dir gut, jetzt kann dir nichts mehr passieren. Aber dann ging es erst richtig los!“