Regen zwischen Hull und Leeds

Eine Schriftstellerin besucht Dortmunds Partnerstadt Leeds und deren kleine Schwester, eine Zugstunde entfernt: Kingston upon Hull. Überall stößt sie auf Begeisterung. The Germans - sie werden hier im Norden der Insel geliebt. Als Anfang der 1950er geborenes „Nachkriegskind“ sorgt das nicht nur für gute Gefühle

 

Von Ursula Maria Wartmann

 

Hull? Das sei die kleine Schwester von Leeds, sagte mir neulich jemand. Ob das positiv gemeint war, eher nicht so oder einfach neutral, blieb dabei offen; kleine Schwestern haben jedoch bei den großen ja nicht immer den besten Ruf (und umgekehrt).

 

Jedenfalls ist Kingston upon Hull, kurz: Hull genannt, mit etwa 250 000 hier lebenden Menschen deutlich kleiner als Leeds, das etwa die Größe Dortmunds hat und die 500 000er Marke längst überschritten. Zwar gibt es in Hull eine Brücke, die einmal als größte Brücke Europas galt, es gibt wunderbare alte Bauwerke, das ehrwürdige Münster und einige Museen von Rang, ansonsten aber nicht sehr viele Superlative, mit denen man sich schmücken und die man der Welt herzeigen kann. Da hat in der Tat Leeds mehr zu bieten, was über die Lebensqualität an sich allerdings rein gar nichts aussagt. Auch die über tausend Jahre alte Reichs- und Hansestadt Dortmund, im letzten Krieg bis auf sieben Prozent durch Fliegerbomben zerstört, hat an Spektakulärem eher wenig zu bieten – und dennoch wird die Stadt geliebt: Sie ist – auch – schön, quirlig, bietet Kultur von internationalem Rang, riesige Parks, einige Schlösser und noch viel mehr und wird von quicklebendigen zugewandten Menschen bewohnt. Hier lässt es sich wunderbar leben.

 

„Es ist gut, dass Sie gekommen sind“, wird später an diesem Tag Dr. Elizabeth W. Ward in fehler- und beinahe akzentfreiem Deutsch zu mir sagen. „Es ist eine Ehre für die Studierenden.“ Die 34-jährige Dozentin an der Universität von Hull schreibt mit drei gehakelten Fingern Anführungszeichen in die Luft und lächelt: „Wir sind hier ja nur in Hull.“

 

An diesem verregneten Tag in Yorkshire nehme ich von Leeds aus den Zug Richtung Hull. Der Bahnhof ist mit dem Taxi vom IBIS aus gut zu erreichen; der Fahrer hat einen struppigen langen Bart und die freundlichsten Augen der Welt. Er stammt aus Pakistan. Islamabad sei weit, sagt er; er kann nur alle paar Jahre mal in die alte Heimat reisen. Er lebt gerne in Leeds. Er dirigiert mit einer sparsamen Handbewegung den Peugeot zwischen zwei LKW hindurch. „Good town, good people.“ Das Taxifahren in dieser Stadt ist dermaßen billig, dass ich mich frage, wie er mit den Einnahmen überhaupt jemals einen Flug nach Islamabad finanzieren kann. Ich gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld und hoffe, dass das andere auch so machen. Seine Augen strahlen wie zwei Wunderkerzen. „Have a good life!“, ruft er mir nach, als ich mit einem Lachen die Tür zuwerfe und noch einmal winke.

 

Am Bahnhof sind die Zugänge an den Bahnsteigen strikt gesichert. Hier kann niemand einfach so passieren. An den Drehkreuzen stehen Männer und Frauen in Warnwesten und kontrollieren das Procedere: Ohne Ticket kommt hier niemand rein oder raus. So spart man sich aufwändige Kontrollen wie bei uns, die in den Zügen durchgeführt werden und immer wieder für Aufruhr oder gar Randale sorgen. Wie so oft frage ich mich, wieso eigentlich man nicht das Beste aus allen Ländern nimmt, zusammenwirft, gut durchrührt und eine bessere Welt daraus backt. Hallo – weiß das jemand?

 

Jedenfalls hat der Pakistani für gute Laune bei mir gesorgt – nicht, dass sie vorher schlecht gewesen wäre, aber durch die ungewohnte Arbeit mit jungen Studierenden, das Hin und Her in einer lebhaften, manchmal hektischen und immer unbekannten Stadt, und durch das unablässige Auf-Sendung-Sein und der Konzentration, die eine fremde Sprache erfordert, bin ich etwas ..., was wäre das richtige Wort: mental aus der Puste, vielleicht? Und dann habe ich das Gefühl, dass ich nicht die sein kann, nicht die verkörpern kann, die ich bin. Denn was ich bin, bin ich natürlich zu einem großen Anteil durch Sprache – das sind wir alle, klar, erst recht aber die, für die Sprache professionelles Handwerkszeug ist. Stilles Erdulden ist nicht meine Königsdisziplin, doch genau dazu bin ich in England immer wieder verdonnert. Witz, Humor, Diskutieren, Standpunkte verteidigen ..., all das und noch viel mehr transportiert man im Allgemeinen über Sprache. Nun ja, ich hätte mich mehr vorbereiten können. Sprachkurse gibt es an jeder Ecke.

 

Nun wird aber – wie an den Unis in Leeds – in drei Stunden eine junge Dozentin auf mich warten, deren Emails in makellosem Deutsch verfasst waren. Ihre Schützlinge müssten heute – an einem Freitagnachmittag – nicht zu dem Seminar kommen; sie könnten längst chillen, verreisen, beim Bier zusammensitzen. Aber nein, sie werden kommen, haben sie gesagt, sie werden gerne kommen. Und sie werden kommen, wie ich später sehe. Alle. Und mindestens so gespannt auf mich sein wie ich auf sie.

 

Ich freue mich. Auf dem Programm steht, wie neulich bei Dr. Carolin Summers in Leeds, meine Erzählung „Nicht hier bei uns im Ort“. In Leeds wurde mit der Übersetzung begonnen, in Hull wollen die Studierenden daran weiterarbeiten. An einer Geschichte, wo es um das coming out einer jungen Frau in ihrem Alter geht, die in ihrem Dorf – dem „Ort“ – auf Widerstand stößt, besonders bei ihrem Vater. (Schon die Übersetzung des Wortes „Ort“ hat sich als schwierig erwiesen! Spannend, ganz neue Erkenntnisse auch für mich.)

 

Der Bahnhof von Hull ist deutlich kleiner als der Bahnhof in Leeds. Die gleiche Prozedur aber wie in der Schwesterstadt, Drehkreuze, Menschen in Warnwesten, diesmal, um den Bahnsteig zu verlassen. Natürlich bin ich viel zu früh. Ich will für einen ersten Eindruck Hull erkunden. In der Bahnhofshalle stehen an einem Tresen eine ältere Frau und ein junger Mann in der hellblauen Kleidung der Volunteers – zum Kulturhauptstadtjahr 2010 hatte ich ebenfalls blaue Kleidung an und habe begeisterten Gästen aus aller Welt die Metropole Ruhr erklärt. Die beiden Volunteers freuen sich, als ich auf sie zukomme und erklären mir ihr Hull. Sie preisen die Stadt und platzen schier vor lauter Liebe zu ihr – so, wie sich das gehört! – und während die Frau einen Stadtplan glattzieht, zeichnet der junge Mann den Weg ein, den ich gehen soll, um möglichst das Beste aus dem Rundgang herauszuholen.

 

Es hat zu regnen begonnen. Heftig. It’s raining cats and dogs, sagt man hier; in weiser Voraussicht habe ich in Dortmund meinen regendichten Parka eingepackt. Der glatte Stein auf dem großen Platz der Stadt schimmert, als würden die prächtigen Bauten wie in Venedig auf Pfählen im Wasser stehen.

 

Es gibt reizvolle Aussichten, der Hafen ist nicht weit, Museum, Town Hall, später der Besuch des prächtigen Münsters, wo gerade eine sensationelle Michelangelo-Ausstellung stattfindet. Unter den Kirchenbänken der riesigen Kathedrale stehen Fußbänkchen, die gepolstert und bestickt sind. Eine charmante Art, gegen kalte Füße vorzugehen: Jedes Bänkchen weist auch auf die Eigentümer*innen hin, unter anderem ist eins im Besitz der Literaturgruppe Hull. Auf dem Weg ins Zentrum findet sich eine Weile lang Nachkriegstristesse, architektonische Sünden. Leerstand auch. Bilder, die ich aus Dortmund kenne, dem Ruhrgebiet insgesamt, das als wichtigster Industrie- und Rüstungsstandort Deutschlands unter den Fliegerbomben über die Maßen gelitten hat.

 

Im Vorfeld hatten alle drei Dozentinnen queere Themen ausgewählt, allesamt Texte von mir. Dr. Helen Finch diskutierte das Thema „othering“ am Beispiel von „Rückkehr der Träume“, ihre zwei Kolleginnen waren mit der Übersetzung der short story beschäftigt. Die Unis in Leeds sind alt und schön; es gibt offene Kamine, Stuck und schwere Ledersessel. Die Uni in Hull ist als ein Ableger der Universität in London 1920 gegründet worden und ist eher ein moderner Campus, der etwas außerhalb liegt. Die Interieurs zweckmäßig und sehr geschmackvoll, stylische Nischen zum Chillen und Lesen, ein Café in einem explosiven Farben- und Formen-Mix. Toll!

 

Ich nehme nach der Michelangelo-Ausstellung ein Taxi Richtung Campus. Der Fahrer diesmal ein Engländer, sogar einer aus Hull, bartlos, rötliches Haar, etwas beleibt. Vorne fehlt ihm ein Schneidezahn. Sein Akzent ist schwierig für mich; als er hört, dass ich aus Deutschland komme, drückt er vor Begeisterung auf die Hupe. „Great“, schreit er. „I love Germany. You are so funny.“ Er dreht sich zu mir um, zeigt mir kurz die Zahnlücke und reißt das Steuer nach links. Help! Das Hupen eines Transporters jault vorbei. Der Fahrer rauft sich das Haar. „I’ve never been there you know“, ruft er traurig. „But one day perhaps ..., where do you come from?“ Er gibt sich Mühe, langsam zu sprechen. „Dortmund“, sage ich. Ich bin gespannt, ob er damit etwas verbinden wird. Natürlich verbindet er etwas damit etwas. Den BVB. „Great“, schreit er wieder, „good boys, you are so wunderful.“

 

„But the ... war“, sage ich, zögernd. Ich habe einen Kloß im Hals. Immerhin steht vor dem Bahnhof ein riesiges Kriegerdenkmal. Und im Bahnhof sind an den Wänden die Namen von Hunderten und Aberhunderten der Gefallenen aus Hull zu lesen, die von hier aus in den Krieg zogen und nie zurückkehrten. „But the wars“, müsste ich eigentlich sagen, denn es wird überall hier der Gefallenen beider Weltkriege gedacht, die auf Deutschlands Konto gehen. Ich kann nicht anders: Sobald jemand mein Land lobt, das ich liebe, habe ich Einwände; die Scham sitzt tief, das Gefühl von Schuld, das Bewusstsein, einem Volk anzugehören, dessen Brutalität weltweit legendär ist und kaum in Worte zu fassen. Ich habe noch nie ein KZ besucht und werde es niemals können. Der Mann mit dem rötlichen Haar und der Zahnlücke hat ein weites Herz, obwohl es sicher auch in seiner Familie Kriegsopfer gab. „The ... war ...?“, fragt er, tastend, als müsse er erstmal für sich sortieren, was denn das nun überhaupt ist. Er strahlt mich noch einmal an; er bemerkt meine Beklommenheit; er ist entschlossen, mich da rauszuholen. „That were the Nazis“, ruft er mit Nachdruck aus. „Not the Germans, the Nazis, you know?“ Ich schlucke und merke, dass ich mich, verdammt noch mal, zusammenreißen muss. Ich gebe ihm ein großzügiges Trinkgeld. Er will nicht bis Islamabad, aber vielleicht irgendwann mal bis Dortmund, und das gibt es auch nicht umsonst.

 

Auf den Stufen zum Hauptgebäude der Universität Hull steht Dr. Ward und lächelt mir zu. Wir stehen voreinander, checken kurz die Lage, die Chemie stimmt, und schon liegen wir uns in den Armen und tun was für die Anglo-German-Freundschaft. „Es ist gut, dass Sie gekommen sind“, sagt Elizabeth M. Ward, „es ist eine Ehre für die Studierenden.“ Sie führt mich übers Gelände, zeigt, erklärt. Ich bin beeindruckt.

 

Eine Traube vor der Tür; sie warten schon auf uns. Neugierige Blicke, ein Nest aus zusammengesteckten Köpfen, wo getuschelt wird. Hände umklammern Laptops und Mappen. Elizabeth schließt die Tür auf.

 

Sie könnten an diesem Freitagnachmittag längst chillen, aber nein: Sie wollen es so. Sie wollen zwei Stunden streiten und debattieren, linguistische Fragen unter die Lupe nehmen, das Für und Wider abwägen bei diesem oder bei jenem Wort. Die Schriftstellerin aus Deutschland kennenlernen. Es sollen schließlich fast drei Stunden werden. Lilian ist dabei, eine junge Wissenschaftlerin aus Österreich, die aus Freundschaft und zur Verstärkung gekommen ist; ihre Eltern, erzählt sie später, waren glühende Zionisten; ihre Familie: so viele ermordet in den Lagern, sie selbst lebt in England und zwar sehr gern ... Sie stolpert über das Wort „Schickse“. Schickse, das ist jiddisch für nicht-jüdische Frauen. In meiner Geschichte benutzt es ein Vater für die Freundin seiner Tochter, nicht freundlich in diesem Fall; im Ruhrgebiet, das habe ich allerdings erst nach meiner Rückkehr nach Jahrzehnten gelernt, benutzt man es eher mit zärtlichem Einschlag; vielleicht auch nur im westfälischen Teil? „Was macht unsere Schickse denn so?“, fragt mich unweigerlich bei jedem Telefonat irgendwann die Mutter meiner Liebsten. Und eine Freundin berichtet, dass ihr Ehemann gerne und in schönster Zugewandtheit: „Na, meine kleine Schickse?“ zu ihr sagte, wenn er sie in die Arme nahm.

 

Lilian ist diese Konnotation völlig unbekannt. Aufregend, solche Gespräche, auch die jungen Studierenden hören mit großen Augen zu. Ich werde geradezu erleuchtet, als es um die Übersetzung von „... sie hasst es, abends in ihr leeres Haus zu kommen“ geht. Die Studierenden machen aus „abends“ ein „in the end of the day“, was mich begeistert. „Am Ende des Tages“ – my goodness, das bietet ganz anderen Raum für Assoziationen, für innere Bilder. Da ist alles drin: Nach der Arbeit erledigt sein, erstmal Schuhe aus, Tee kochen, Rotwein entkorken. Puh! Erst mal auf die Couch.

 

Sie arbeiten in Kleingruppen, genauso wie bei Helen und Caroline in Leeds. Sie blättern in schweren Wörterbüchern, was fast anachronistisch wirkt, suchen im Internet, machen sich Notizen. Lachen, schauen sich Hilfe suchend um. Elizabeth und Lilian gehen von Gruppe zu Gruppe, ich bin stand by, ganz bezaubert vor lauter Genießen dieser wunderbaren ungewöhnlichen Situation und bezaubert auch von den vielen wunderbaren ernsthaften jungen Menschen, die ihren Weg erst noch finden müssen und hoffentlich finden werden, und denen ich alles Glück dieser Welt wünsche.

 

Nach dem Seminar sitzen wir zu dritt – Elizabeth, Lilian und ich – auf einer Bank vor dem Hauptgebäude. Das Taxi wird in etwa zwanzig Minuten da sein. Natürlich ist der Brexit auch hier ein Thema. Kein Mensch kann oder will inhaltlich noch etwas dazu sagen. Ratlosigkeit, Schulterzucken. Schlimmste Befürchtungen auch hier. Und immer wieder: Wut. Dann kommt der Taxidriver um die Ecke; ein Junge stürzt auf den Wagen zu – sorry, falsches Codeword. Der Fahrer schüttelt den Kopf.

 

Ich kenne das richtige: Ursula. Tja, mein Freund. Pech gehabt.

 

Yeah! Ich umarme die Damen mit viel Enthusiasmus, der erwidert wird; wir alle hoffen auf ein Wiedersehen. Diesmal fährt mich ein schweigsamer Blonder mittleren Alters. Draußen fliegen die Fassaden vorbei. Eine Backsteinkirche ist zu verkaufen, im Nieselregen hängt der gemarterte Christuskörper. Imbiss, Roulette, Indian Food, Sisha Bar; ein bisschen Rotlicht-Milieu offenbar. In der Bahnhofshalle haben die Volunteers den Infostand längst dicht gemacht. Blutrote Poppies – Mohnblüten aus Papier oder Plastik – im Rund des Gebäudes, ein paar Blumen. Und Namen über Namen der Gefallenen der Stadt und die Inschrift:

 

In Memory of those who left Hull Station 1914 – 1918 (WW 1) and never returned.

 

Dass sie uns trotzdem lieben, zumindest oft so vorbehaltlos begegnen ... Allen, die ich getroffen habe in diesen besonderen Tagen, bin ich dankbar dafür.

 

Diesen Text habe ich am Abend vor meiner Abreise geschrieben. Ich saß lange unten in der Hotellobby, hatte einen Rotwein vor mir stehen und später noch einen und Papier und Stift dabei und draußen regnete es – wie üblich in Yorkshire natürlich cats and dogs.

 

 

Oktober 2019