Textprobe aus „Die Angst der Kaninchen“

Prolog

 

Obwohl es langsam dämmrig wurde, war es noch immer warm. Nicht mehr so schwül wie in den letzten Wochen, aber als Thorsten aus seinem klapprigen Ford geklettert war, hatte er den Geruch von Grillkohle und verbranntem Fleisch in der Nase.

Drüben in den Kleingärten saßen sie noch draußen.

Die Gärten waren nur durch eine Böschung und eine schmale Straße von dem stillgelegten Zechengelände getrennt. Wenigstens die Hälfte der windschiefen Lauben war von Türken belegt, die ein paar Meter weiter in der Straße direkt neben dem Friedhof wohnten.

Thorsten hatte früher oft Fußball in dieser Straße gespielt. Heute hätten ihn keine zehn Pferde mehr dahin gebracht. Genau solche Slums wie diese Buden da vorne. Er spuckte aus und räusperte sich leise. Dann duckte er sich hinter einen Mauervorsprung.

Er wartete.

Die Schritte kamen näher.

Er hätte nicht gedacht, dass sie es wagen würde, ihm zu folgen. Wahrscheinlich war sie genauso unberechenbar wie ihr Bruder. Timo war nie wirklich auf seiner Seite gewesen, das wusste Thorsten schon seit längerem. Er biss sich in den Knöchel des Zeigefingers, massierte die Haut mit den Zähnen und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

Im Hintergrund des Zechengeländes konnte er den Förderturm sehen. Dahinter die Silhouette des Schlackenbergs, die schon im Schatten lag. Ausgebrannt, ausrangiert. Wie ein gestrandeter Wal.

Irgendwann hatte man den Schlackenberg bepflanzt, und keiner, der es nicht wusste, konnte ahnen, was sich darunter befand. Viele gingen hier mit ihren Hunden spazieren und nahmen den Weg über die enge Brücke mit ihren Stahlträgern. Früher war das der Weg der Bergleute gewesen, aber das wusste Thorsten nur vom Hörensagen. Die Welt hatte sich verändert, und wenn er sich drüben die Kleingärten anguckte, konnte er nur sagen, nicht gerade zum Besten.

Turnschuhe.

Natürlich trug sie Turnschuhe. Er hatte nie etwas anderes an ihr gesehen, aber wenigstens konnte sie sich darin

besser und leiser bewegen als er in seinen Springerstiefeln. Thorsten kauerte sich tiefer in die Hocke und lauschte.

Nichts.

Ein paar Meter rechts von ihm zeichnete die Abendsonne einen warmen Kupferton auf die Ruinen. Thorsten griff sich an den Rücken und kontrollierte den Sitz seiner Pistole, die er in den Bund seiner Jeans gezwängt hatte. Er unterdrückte ein Kichern. Duisburg, Hauptbahnhof. Ein Türke hatte sie ihm damals besorgt, dem war es egal gewesen, dass er gerade mal dreizehn gewesen war. Mit dieser Knarre hatte er noch vor ein paar Jahren Karnickel

abgeschossen, hundert bestimmt, oder noch mehr. Mehr jedenfalls als Klaus oder Mannie, die hatten lieber Dosenbier getrunken und über Weiber gequatscht. Aber ihm hatte es Spaß gemacht.

Verdammten Spaß sogar!

 

Schon damals kannte er jeden Zentimeter hier und jeden Stein. Jedes Schlupfloch. Er liebte dieses Gelände, das vom Ruß zerfressen war, er hatte es damals geliebt, und er liebte es nochimmer. Er kannte jede Biegung, die unter dem grauen Unkraut die rostigen Gleise machten. Er kannte die Gräser, die in den Ritzen des morschen Mauerwerks nisteten. Den Hunger der streunenden Hunde, die sich verstohlen die Lefzen leckten. Und er kannte die Angst der Kaninchen, wenn er ihnen direkt gegenüberstand.

Dies war sein Revier.

 An die hohen, schwarzen Kamine klammerten sich Gräser, kraftlos wie ausgemusterte Weihnachtsbäume, und durch das Dach der Maschinenhalle sah man in klaren Nächten die Sterne funkeln. Was, zum Teufel, wusste schon jemand wie die da vom Leben, vom wirklichen Leben? Aber dass sie hierher gekommen war, damit hätte er nicht gerechnet. Sie musste doch wissen, dass er eine Knarre hatte. Aber wahrscheinlich kochte sie vor Wut.

Herrgott, er hätte noch was ganz anderes aufziehen können. Er hätte ihr so richtig die Fresse polieren können, oder sie so richtig vergewaltigen. Aber das hat er nicht getan.

Das hat er ihr erspart.

Und sich auch.

Er grinste. Wahrscheinlich sah sie einfach rot, weil sie so gottverdammt hochnäsig war, und ihr war egal, ob er ein Schießeisen hatte oder nicht. Wahrscheinlich glaubte sie nicht, dass er jemals abdrücken würde. Thorsten schob die Lippen vor und schüttelte langsam den Kopf. Was wusste die schon, was er tun würde?

Man würde sehen, wie sich das hier entwickelte. Der Abend hatte gerade erst angefangen.

Katz und Maus. Ein Spiel nach seinem Geschmack, ganz nach seinem Geschmack.

Er biss sich einen Hautfetzen von der Lippe und spürte dem metallischen Geschmack von Blut nach. Dann presste er ein paar Sekunden den Handrücken gegen den Mund. Wer gewinnen würde, war sowieso klar. Diese Emanze jedenfalls nicht. Dafür musste er sorgen. Und dafür würde er sorgen. Er musste an diesen verdammten Schlüsselanhänger kommen, der unter der alten Werkbank in der Maschinenhalle lag.

Und dabei war Jenny verdammt im Weg.

Er überprüfte die Schnürsenkel seiner Stiefel und knotete sie sicherheitshalber noch einmal neu. Dann schob er langsam den Kopf über die Mauer und zog ihn sofort zurück. Sie stand direkt vor ihm, in ungefähr sieben Metern Entfernung. Schusslinie. Sie sah blass aus, gerader Rücken, der Mund zusammengepresst. Zu allem entschlossen. Natürlich hatte sie eins dieser unmöglichen karierten Hemden an. Timo hatte es ihm mal erzählt, mindestens fünfzehn hatte sie davon, in sämtlichen Farben. Sie trug sie sogar in der Schule. Solche Weiber müssten zu Petticoats zwangsverpflichtet werden. Thorsten saugte an seinem Handrücken, bis es schmerzte. Wahnsinnsidee. Petticoat-Parade der Emanzen. In der Fußgängerzone. Start bei Tchibo. Finale bei Karstadt. Mit Blasmusik.

Echt komisch. Das musste er ... das musste er unbedingt jemandem erzählen.

 

Aus den Kleingärten wehte Gelächter herüber. Geruch von Knoblauch, Gewürzen. Ein Mann stimmte mit einer weichen Stimme ein Lied an. Dieser schaurige Singsang, mit dem diese Kanaken den ganzen Sommer hindurch die Stadt terrorisiert hatten. Offene Türen und Fenster und in den dicken Autos die Stereoanlage bis zum Anschlag hochgedreht. Man wusste ja kaumnoch, wo man sein Gemüse kaufen sollte. Nur noch eine Frage der

Zeit, bis an jeder zweiten Kreuzung eine Moschee stand.

In das Lied des Mannes stimmte eine Frau ein. Kinder riefen sich etwas zu. Über die Ruinen wanderte in schrägen Strahlen die Sonne.

Jemand suchte im Transistorradio nach den Abendnachrichten.

Thorsten fror.

Er drückte die rechte Hand gegen die Stirn. Er fror, und er merkte, dass er Hunger hatte. Diese Art von Hunger, die er hasste. Ein Hunger, der nicht im Magen, sondern direkt hinter den Augen wütete und irgendetwas in ihm langsam auffraß.

Er kannte dieses Gefühl, normalerweise kippte er ein paar Bier darauf, aber hinter dieser verfluchten Mauer hatte er leider keins dabei. Er stöhnte leise und presste die Stirn gegen einen Ziegel, der in Augenhöhe aus der Mauer sprang. Geruch nach Erde, Moos und kühlem, unnachgiebigem Verfall. Er schloss die Augen, und er dachte an das, woran er immer dachte, wenn er diesen Hunger spürte: Ich bringe dich noch dazu, in eine Flasche zu scheißen, hatte sein Vater gebrüllt, damals, als er die dritte Lehrstelle hingeworfen hatte. Und er wusste noch heute, was er als erstes gedacht hatte: Ungläubig, das geht doch gar nicht, hatte er gedacht, wie soll denn das gehen, in eine Flasche scheißen? Dann erst hatte er begriffen, was sein Vater gemeint hatte, und er hatte ihm die letzte Berührung seines Lebens zukommen lassen, er hatte ausgeteilt, aber diesmal richtig, seine Mutter hatte geschrien, wie am Spieß hatte sie gebrüllt, und dann war der Notarzt gekommen.

Sein Vater hatte ganz schön was abgekriegt.

Thorsten grinste und fuhr sich mit der Hand über den Schädel.

So langsam war wieder mal der Rasierer fällig. Er unterdrückte ein Niesen und spähte noch einmal über die Mauer. Was, zum Teufel, machte diese Emanze da bloß, das wurde ja langweilig hier in dem Laden. Er wischte sich verblüfft über die Augen und sah noch einmal genauer hin. Sie war verschwunden.

Vorsichtig schob er sich auf den Knien die Mauer entlang. Anzunehmen, dass sie gerade die Ruinen nach ihm durchsuchte. Klarer Heimvorteil für ihn. Im Gegensatz zu ihr kannte er jeden Winkel. Ihm war schleierhaft, was sie überhaupt vorhatte. Klar, sie war auf Rache aus. Aber sie konnte doch nicht ernsthaft annehmen, dass sie auch nur die Spur einer Chance gegen ihn hatte. Ächzend versuchte er sich aufzurichten.

 

„Hier bin ich“, sagte sie. Ihre Stimme klang so klar und kühl wie ein Eiswürfel in einem Campari-Glas. „Du kannst dich ruhig umdrehen!“

Thorsten erstarrte zu einer Momentaufnahme.

Läufer, kurz vor dem Start, Kopf gesenkt, die Hände noch am Boden.

Sie stand hinter ihm, er spürte sie, er roch sie, sie lief herum wie eine Schlampe, aber ihr Geruch war warm, intensiv und von einer Süße wie die Haut eines Kindes. Hinter seinen Augen begann wieder dieser Schmerz zu toben. Mit einer langsamen Bewegung nahm er die Hände aus dem Staub und schraubte sich schwerfällig hoch.

Hinten in den Jeans steckte der Knauf seiner Pistole. Natürlich hatte sie ihn bemerkt. Aber sie sagte kein Wort dazu. Sie würde es nicht wagen, sich ihm zu nähern.

Thorsten drehte sich um, langsam, die Innenflächen der Hände wie im Gebet zum Himmel gehoben.

„Hände hoch, oder wie?“ sagte er. „Okay, schon erledigt. Und was jetzt?“

Sie hatte ein Messer dabei. Timos Fahrtenmesser, der Griff aus hellem Hirschhorn, lange, scharfe Klinge, Thorsten kannte das Messer. Sie stand einfach da, sah durch ihn hindurch und hielt das Messer fest. Sie hielt es waagerecht zwischen den Händen, die sie in kurzen Abständen auf und ab bewegte, nachdenklich, als ob sie das Gewicht des Messers bestimmen oder herausfinden wollte, wie tief es wohl in seinen Körper eindringen würde.

Welche Wucht so ein Stich braucht.

Welcher Winkel der beste sein könnte.

Sie lächelte.

„Du bist ein asoziales Schwein“, sagte sie. „Einfach ein wi-der-licher, mie-ser ... Wichser!“

Es klang, als hätte sie die Vokabeln einer Fremdsprache auswendig gelernt. An ihrer Schläfe pulsierte eine Ader, und dicht darunter begann eine schmale Narbe gerade erst zu verheilen.

„He, Emanze“, sagte Thorsten. „Wo hast du solche Sachen her? Lernt man so was auf dem Mädchengymnasium?“

Er lachte und verdrehte die Augen.

Sie antwortete nicht. Sie stand einfach da und sah ihn an und sah ihn nicht an, genauso, wie es immer gewesen war. Seit ihrer ersten Begegnung bei Hanne war er wie Luft für sie gewesen, und den ganzen Sommer hindurch hatte sie seinem Blick standgehalten, ohne auch nur einmal zu lächeln. Nicht so!

Mit Thorsten tat man so etwas nicht!

Thorsten starrte sie an und überlegte. Kein Mensch weit und breit. Die Knoblauchfresser hinter der Straße, die hatten genug mit sich zu tun. Er kickte nachlässig einen Kiesel zur Seite, der durch den Staub wirbelte und dumpf gegen ein rostiges Ölfass schlug. Alte Taktik, Kriegsmanöver. Dann machte er einen Schritt auf sie zu, die Hände noch immer erhoben. Den Gegner irritieren und dann zuschlagen. Das war das ganze Geheimnis. Ganz einfach,

genau genommen, nichts dabei. Nicht schwerer, als in eine Flasche zu scheißen.

Hinter seiner Stirn tanzten weiße Laserblitze.

Er schwenkte die Augen wie zwei Scheinwerfer auf ihr Gesicht, krümmte die Finger, machte eine schnelle Bewegung auf ihre Brüste zu. Raubvogel reißt Beute. Sie wich zurück, das Messer in ihrer Rechten, sprungbereit. In ihren Augen die Angst. Thorsten kannte diese Angst. Tonlos, reglos, nichts als gesträubtes Nackenhaar.

Jede Chance verspielt.

Es war die Angst der Kaninchen, wenn er direkt vor ihnen stand.

 

Thorsten wusste, wie man die Angst zum Schweigen brachte, er kannte das Leben, er hatte die Lektionen gelernt. Dies war sein Revier. Dann lag der Knauf der Pistole hart und warm in seiner Hand. Der Wind frischte auf, hinter den lang gestreckten Ruinen war plötzlich die Sonne verschwunden. Die Mauern färbten sich schwärzer als die Nacht, und oben an den Kaminen baumelten gespenstisch die Gräser.

In den Kleingärten war die Musik lauter geworden. Thorsten hatte die Pistole im Anschlag und lächelte. In die schmale Straße bog mit halsbrecherischem Tempo eine japanische Limousine ein. Thorsten legte den Kopf schräg, lauschte und nickte. Dann tauchte eine Gestalt auf der Böschung auf. Sie war nicht weit entfernt, und sie kam immer näher. Die Frau war schnell, obwohl das Gelände unwegsam war, und auch sie hatte eine Pistole in der Hand.

„Runter damit! Und die Hände hoch!“

Ihre Stimme gellte über das Gelände wie der lang gezogene Klagelaut eines Tieres. Thorsten machte eine schnelle Drehung aus der Hüfte. Katz und Maus, Schießeisen im Anschlag. Er hatte Routine, und streng genommen hatte er mit so was irgendwann gerechnet.

Der Schuss klang wie eine Detonation. Für Sekunden blieb die Zeit stehen. Thorsten lächelte noch immer. Er blickte versonnen hinüber zu den Ruinen, als wäre dahinter etwas Großartiges, etwas Bedeutendes, etwas, das nur er sehen konnte.

Er ganz allein.

Aus den Kronen der Kastanien flatterten Vögel auf, und durch das hohe Unkraut flohen verängstigt die Kaninchen.

Dann stand die Frau direkt vor ihnen und sah auf Thorsten herunter, der mit verzerrtem Gesicht seinen rechten Arm umklammert hielt.