Rezension


Ursula Maria Wartmann
Kerstin Fischer: „Pfauenwasser“, Oberhausen (edition exemplum, Athena Verlag) 2025. 112 Seiten.
Der neue Lyrikband von Kerstin Fischer ist eine flammende Ode an das Leben. Und: Er ist eine Ode an den Tod. Aufwühlende Ambivalenzen durchziehen den Band der norddeutschen Autorin – wieder erschienen in der edition exemplum im ATHENA Verlag. Ambivalenzen sind es, die mit Urgewalt Meere oder Libellen tanzen lassen, die rostige Ränder der Städte und stille Zimmer besingen – und die beinahe in jedem Moment das Bewusstsein für eines nicht verlieren: dass wir gefährdet sind, zerbrechlich. Und nah, in jeder Sekunde nah am unausweichlichen Tod:
„In mir wächst ein Baum
mit jungen Zweigen
in den Tod.“
ist eins von fünfzehn Kürzestgedichten (von insgesamt gut einhundert Gedichten), das ohne Titel prägnant und unprätentiös das Problem auf den Punkt bringt.
Kerstin Fischer hat mit „Pfauenwasser“ ihren Namen als kluge und hochsensible Sprachvirtuosin gefestigt. Ihre expressiven Sprachbilder und Metaphern rütteln an den aus gutem Grund verschlossenen Türen tief in uns selbst; sind durchaus geeignet, alte Ängste neu zu mobilisieren. Sie sind aber auch geeignet, eine Kraft zu mobilisieren, die antritt, dem Tod zu trotzen.
Drei Textblöcke umkreisen mit immer wiederkehrenden Motiven die Themen Schmerz und Tod – auch Todessehnsucht wohl; der Hang zum Fragilen, Morbiden ist augenfällig und bringt faszinierende Bilder hervor.
„Schon im Winterfell stehe ich am Rande der Erde,
vor blau blühenden Gräbern.“
heißt es in „Exitus“.
In „Spur“ heißt es aber
„… Ich schreibe Not in mein Buch und gelinge.
… Über dem Steinboden treiben warm die Bilder aus,
zart und grün.
Durch das Glas fällt herbe Wintersonne,
die nach Flüssen riecht.
Meine Spur entsteht.“
Kerstin Fischers genaue Beobachtungen münden in sehr besondere Assoziationen: Verrätselt, fantastisch, verfremdet. Da ist viel Platz für Interpretation und Hineinweben ins eigene Erlebte. Viel von dem, was Sprache an religiösem Vokabular parat hat, wird genutzt: Hostie, der Gesalbte, Engel, Altäre, Abendmahl ... Der Verlust scheinbar heilsbringender Kindheits-versprechen tut ein Leben lang weh.
„…Zangen aus Zeit schmerzen die kranken Glieder,
die vor Altären betteln.
Das Gewissen, ein zahmes Reh vor Opferstöcken,
trinkt die schwarzen Flecken von den Lungen.
…“ (aus: Kreidezeichen)
Überhaupt: die Tiere. Viele von ihnen bevölkern Fischers geheimnisvolle Welt. Neben den Rehen auch Raben und Ratten. Libellen. Vögel und Fische. Und Schwäne und Muscheln.
Überhaupt: das Meer. Das Meer in x Variationen – die Autorin lebt knapp eine Autostunde von der Nordsee entfernt – bedrohlich oder mild.
Überhaupt: die Natur. Kirschen und Kornblumen unterm Mond. Felder und Mohn, laubnasse Parks und dunkle Gärten; der heimische Garten als Trostspender zuweilen:
„Der dunkle Wintermorgen hüllt den Garten in Gebrechlichkeit.
Reste von Schnee wie verlorene Tage. …
Um die Blätter eisige Häute wie Pelze.
In dem Teich sind Geheimnisse erfroren. …
Ich bewege warme Orangen in meiner Hand, …“ (aus: Gartenbegehung)
Häufig werden Innenräume gezeichnet: still und abgeschieden; sie erinnern sie an die Bilder des genialen Vilhelm Hammershoi. In Zimmern wird Geborgenheit erlebt, gelegentlich mit einem Du, das wir nicht kennen. Oder das Gefühl von Gefangensein:
„Gefangen in sonnengelben Zimmern.
Meine Hände kleben wie Schnecken an den geschlossenen Fenstern.
…“ (aus: Strandfeuer)
Auch als Ort kontemplativer Überlegungen kann ein stiller Raum dienen:
„Ich sitze am Fenster, vor der Ruhe des Gartens.
Hinter den geschlossenen Augen der Kirsche wohnt schon der Winter.
Schwalben gleiten durch das warme Sterben des Sommers.
Das Zimmer formt die Totenmaske der Mutter.“ (ohne Titel).
Nur einmal noch taucht die Mutter auf, in „Werdegang“:
„Meine Schritte schwimmen wie Fische durch die Mittagsruhe der Stadt. …
Ich laufe zum Bahnhof, um den Zugvögeln zu folgen.
Die Gleise schmecken nach Blut. …
Ich lege die Hände vor die Mutter in meinem Gesicht …“
Das ist groß und erschütternd. Nicht weniger groß die Kraft, die sich, quasi wie ein Manifest zum Leben, zum Weitermachen, auch im Gedicht „Menschenleer“ zeigt:
„In den dornigen Morgen welken Gedanken.
Meine Schmerzen sind noch schüchterne Greise.
Ich flüchte in die weißen Wiesen des Papiers
und webe Worte in menschenleere Täler.“

Ursula Maria Wartmann
Florian Birnmeyer „Storchenstolz“, Berlin, Verlag der Neun Reiche, 32 Seiten.
Mit Linolschnitten von Steffen Büchner

Stolz und Demut, Fall und Aufstieg, Morpheus‘ magische Träume, Macht und Ohnmacht schwuler Liebe … Es sind mächtige Gefühle, die der 33jährige Florian Birnmeyer in seinem „Storchenstolz“ aufruft – und zunächst Anleihen macht in der griechischen Mythologie.

Das Wasser
Meiner Nemesis
Säuselt leise
Schleift die Steine

(Aus: Im Nass)

Nymphen im Halbschatten und lüsterne Bacchanten, Orpheus, der Eurydike erneut „ans Ewige verliert“ – da wird viel Personal aufgefahren, das metaphorisch Melancholie transportiert und Sehnen, das Angst vor der Rachegöttin beklagt und drängend nach Heimat ruft:

Die Seelen
Wandern
Wie Nachen
Auf dem Fluss
Des Lebens.

So unversehrt
Im Tiefsten
Sehnsuchtsvoll
Nach Einkehr bittend
Zur Heimat hin.
Einheit.

So.

(Aus: Unter der Weide)

Eine charmante Eigenart übrigens: Dieses „So.“. Es beeendet jedes der 27 Gedichte. Man kann es als Trotz lesen, als Triumph – oder schlicht als selbstbewusstes Statement. Hier hat jemand seinen Standpunkt gefunden und tut ihn der Welt nun kund. (Und kommt sogar ohne Ausrufezeichen aus.)

„Neun Gedichte aus antiker Zeit“ hat Birnmeyer, den ersten Teil des schmalen Bandes genannt; „Neun Gedichte vom Liebeserwachen“ heißt der zweite.
Gleich eingangs wird offenbar ein schwules coming out geschildert; Erleichterung klingt durch und Erschrecken.

Du hast ihn erblickt,
bist nun,
wo zu sein dir richtig dünkt,

In deinem Land der Sinne,
Gefühl der Ruhe
und des Aufruhrs zugleich.

(Aus: Ruhe und Aufruhr)

Ein veraltetes „dünkt“ irritiert an dieser Stelle – wie an anderer Stelle „dräuend“, „gülden“. Eine Sinnhaftigkeit erschließt sich hier nicht. Diese tritt in „Vampirdomizil“ allerdings unverblümt und witzig zutage:

„Wer hat den besseren
Biss?
Wer von uns hat
Mehr Jünglinge gerissen?“

Florian Birnmeyer ist in „Storchenstolz“ kein Mann vieler Worte. Opulenz ist seine Sache nicht. Eher Bescheidenheit, die knappere Form; und wo es bei anderen glüht, ist es bei ihm eher ein Glitzern, hell, hartnäckig und beständig. So wie im namengebenden „Storchenstolz“:

Du meine Knospe
Noch leicht geschlossen
Wundersam daran genippt
Im Morgentau des
Ersten Tages –

„Neun Gedichte vom Fallen und Wiederaufstehen“ heißt der dritte Teil. Es geht um Dankbarkeit angesichts gelebter Liebe. Um den Tod eines Freundes, der beklagt und dennoch mit innerem Frieden angenommen wird.

In gleich drei Gedichten klingt das Thema Epilepsie an.

Weiße Schäume stoßen hervor
Ergießen sich um deinen Mund.
Sie knospen auf
Wie eine salzige Blüte
Die sich beständig vermehrt.

(Aus: Rückkehr ins Leben)

Das letzte Gedicht heißt „Aufbruch“. Es nimmt das Storchenbild wieder auf und ist Appell – könnte angesichts neu erblühender queerer Diskriminierung auch als politischer Appell gelesen werden:


Da erhob sich der
Storch aus Ostwest
In die Lüfte
Flog durch die Weiten
Getaucht in ein Türkis des Himmelsblau
In seiner weißrosarotschwarzen Anmut.

Lasst uns dasselbe wagen –

So.

 

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Ursula Maria Wartmann

 

Barbara Korun "Der Wolf und die Wunde", Frankfurt, Axel Dielmann Verlag, übersetzt von Matthias Göritz und Amalija Macek. 40 Seiten

 

„Die wilden Slowenen“ sind, klar, wild. Die Sloweninnen sind es aber auch, und unter ihnen besonders Barbara Korun. Verleger Axel Dielmann hat sie in seine brandneue 16er-BOX aufgenommen: „Der Wolf und die Wunde“ heißt der kleine Band. Pünktlich zur nächsten Buchmesse in Frankfurt entrollt Dielmann den Roten Teppich für Schriftsteller*innen aus dem kleinen, im Sommer so schwer vom Flutwasser gebeutelten Land

Man kennt eher wenig Literatur aus Slowenien hierzulande – das Verständnis, was Literatur leisten soll, insbesondere Lyrik, scheint zudem verschieden. Hier gerne die l’art pour l’art, artifiziell, experimentell – dort Dichtung gerne dichter am Geschehen, erzählender, weniger abgehoben, weniger akademisch.

 

Barbara Korun, 1963 in Ljubljana geboren, ist eine der Großen in ihrem kleinen Land, bedacht mit nationalen und internationalen Preisen. Korun geht gerne in medias res – ist Vorbild für radikale junge Kolleginnen geworden. Sie fackelt nicht lange, liebt Grenzüberschreitungen, riskiert auch Irritationen:  Der Grat zum Obszönen ist gelegentlich schmal, hat aber auch befreiende Funktion.

 

So im Langgedicht „Der Hirsch“, wo es heißt:

„… der hirsch stupst mich sanft in den busen und leckt mich. ich lasse es zu,

 dass er mir mit der rauhen zunge das geschlecht ableckt,

 … sein duft ist berauschend,

 der duft nach erde, moos, moder und angst.

 der duft nach dem trieb.

 … manchmal sprüht lava aus ihm

 aber er verletzt mich nie.

… und wenn er mir in den hals beißt und ich seinen heißen atem rieche, weiß ich,

 ich werde verschont.“

 

In diesen wenigen Zeilen steckt, neben der Lust, die allseits bekannte Ambivalenz zwischen Frau und Mann. Der Hirsch – der Mann – hat zwar auch Angst; gleichzeitig hat er die Macht zu verschonen. Und doch heißt es an anderer Stelle

„… der wunsch zu verschmelzen ist meiner und heiß.“

 

 Korun wird vom Verlag als eine Dichterin beworben, deren Lyrik tief gehe, „wenn es um weibliche Lust, um den Körper und die merkwürdige Transformation ins Tierhafte geht, welche wir alle vollziehen, wenn wir lieben.“

In der Tat ist das so ... Es braucht allerdings, selbst wenn man die wilden 68er und ihre Nachbeben in Westdeutschland bis zur gelegentlich bitteren Neige gekostet hat, immer wieder eine Verschnaufpause, wenn „Der Wolf“ im gleichnamigen Gedicht das Zepter übernimmt:

 „und er ist mir fremd, fremd, dieser, der wolf ist und sich in meinen körper hineinfrisst …

 … noch und noch und noch einmal, in diesen körper, der nicht mehr meiner ist, reine gewalt,

 die ich zulasse, ich wehre mich nicht, doch ich lasse mich nicht mitreißen, weich

 bin ich, er bewegt mich wie eine puppe …“

 

Das ist heftig, das könnte als Vergewaltigung gelesen werden, zumindest als Sex ohne Leidenschaft seitens der Frau, die die wölfische Dominanz über sich ergehen lässt.

„… dann öffnet sich das paradies in meinem Kopf, das paradies im körper, paradies,

 nein, nicht das des körpers; er taucht noch immer in mich …“

 

Die Milderung traumatischer sexueller Gewalt wird hier durch Dissoziationen erreicht; die Abspaltung erlaubt dem Ich, sich sogar währenddessen seiner eigenen Kraft bewusst zu bleiben, zumindest scheint es so:

„… diese kraft, die in mir steckt, ist stärker als er, sie verwandelt ihn,

 heilt ihn, heilt mich, heilt die Wunde.“

 

 Starker Tobak, das geht unter die Haut. Umso wichtiger, dass die Dinge beim Namen genannt werden, und sei es auch „nur“ lyrisch. Dinge beim Namen nennen, heißt, sie entzaubern, ihnen die Macht abnehmen, heißt auch: Traumata bewältigen. Heißt auch: Solidarität herstellen.

 

Daneben gibt es die Kurzgedichte. Das materielle Elend alter Frauen ist hier Thema, oder die als beglückend erlebte Liebe mit einem Mann, der „weich“ und „scheu“ ist. Überlegungen zum Thema Altern, dem Verfall des Körpers werden angestellt:

„Seltsam liebe- und ekelvoll ist diese beziehung, und doch bringt mich der anblick

 des handrückens, aus dem die bläulichen adern hervorstehen, fast in ekstase.“

 Spannend, das alles. Mitunter ein bisschen fremd. Und gerade deshalb lesenswert.

 

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Ursula Maria Wartmann

 

Christoph Wenzel "Landläufiges Lexikon", Wien, Edition Korrespondenzen. Hardcover mit Schutzumschlag.

 

Es ist die reine Freude. Wer sich in das landläufige lexikon von Christoph Wenzel vertieft, sollte dies mit Zeit tun und der Bereitschaft zum Genuss an einer sehr besonderen Art von Sprache und literarischer Suche. Die Sicht auf die Dinge – auf Landschaften, mehr oder weniger zerklüftet oder beschädigt, auf Kindheit oder den alten Pflaumenbaum, der den Dichter „dauert“ – ist bei allem allgemeingültig Überspannendem kleinteilig und aufs magische Detail fokussiert. Gerne auch aufs Skurrile, wonach man in westfälischer Provinz offenbar nicht allzu lange suchen muss.

 

„die sondengänger sonntags auf dem acker spüren nach notgeld …

im dorfladen: schrauben und haferflocken, lockenwickler, trauben.“

 

Idyllen kommen nicht „ohne rasensprenger“ oder „wanderparkplatz und münzfernrohr“ aus – es sind Idyllen, die weh tun, die gebrochen sind, ad absurdum geführt werden durch Accessoires, die dort nicht hingehören. Idyllen kurzum, die den Namen nicht recht verdienen. Die von der Erinnerung an sie leben, vielleicht: „das alles verblüht dir auf der zunge.“

 

Überhaupt: der Mund. Werkzeug fürs Kauen. Schmecken. Sprechen.

„LÄNDLICH DER MUNDRAUM: die zunge und der weiche gaumen,

die dialekte ziehen sich längs aus der fläche zurück.“

Alles scheint dem Dichter durchmengt mit Platt und der Poesie randständiger Ruhrpott-Provinz. Selbst der Grauschnäpper (gegoogelt: ein 15 Gramm schweres Vögelein) kommt nicht aus seiner Haut bzw. dem Federkleid und

„… presst eine halbe volksliedstrophe aus dem kropf. ein hund

schlägt an auf platt.“

 

Das ist ironisch bis witzig und in seiner Detailverliebtheit ungemein zärtlich. Man spürt in jeder Silbe, dass Wenzel seine Heimat liebt, und zwar so, wie man ein Gegenüber bestenfalls lieben sollte: alle Ecken und Kanten werden geliebt, alles Schrullige und Widersprüchliche und alles Unvollkommene sowieso.

Sinnlich und prall kommt die Beschreibung einer Hofstelle daher, Drubbel genannt.

Im Anhang, Lexikon eben, des 120 Seiten starken Werks, der bei Bedarf Erklärungen liefert, erfahren wir mehr: ein Drubbel ist ein historischer westfälischer Siedlungstyp mit mehreren Haus- und Hofstätten. Im Wenzel’schen Drubbel laufen Tölen (Hunde) und Blagen (Kinder) herum, sitzt man stikkum (wortlos) am Tisch. Rehkitze im Mais. Geruch nach Stall, Zukunftssorgen, Krümel unterm Küchenstuhl, die Katzen im Hof … Ganze Bilderserien laufen ab, die Gefühle befeuern, Sehnsucht vor allem und Melancholie:

 

„… der gilb in den

kalenderblättern mit den bauernregeln, ihr zeitlos-

überholter witz – alles bald geschützt.“

 

Und immer wieder Formulierungen, die schlicht ins Schwarze treffen:

„… DIESE GEGENDEN SIE RIECHEN STRENG

NACH LINOLEUM, beißend, nussig und

nach schweiß, orte, die nur samstag

nachmittag und sonntagmorgens

existieren: asseln, oberraden. massen, …“

 

„Ungemähte Planquadrate“ gibt es in diesem Landstrich, auf einem davon ist jahrelang ein Autowrack sukzessiv versunken – ein geradezu surreales Bild, was die Verwüstung zeichnet, die sich am Ende der Welt in aller Stille vollzieht. Gleich nebenan der Zeuge Jehovas, „der nicht glaubte, glauben wollte“ – nicht minder eindringlich wie das sinkende Wrack.

„Wolfserwartungsland“ sei man hier, schreibt Wenzel, „Angstland“. Aber vorerst fallen andere über den Landstrich her:

… die städter plündern den erdbeerhof …

und

„… auf den friedhöfen wandeln nachts

die kupferdiebe …“

 

Die Angst, sie ist ständige Begleiterin, irgendwie. Bäume, die zwischen Waschbeton und Wäschespinnen das Wachsen einstellen, der Birnbaum:

„.. ich … mochte ihn, seine knüppelharten birnen …

… stumme glocken, die

den herbst einläuten …“ 

Das Kinderelend auf dem Damm. Schulweg und von allen Seiten Gegenwind, der das Kind auf dem Rad zu verzweifeltem Weinen bringt:

„… ach, dies heulen, das ist der wind, ach

kind, hör auf, das ist doch töricht in deinem alter, es sind doch

auch nur elf minuten, wenn du dich beeilst.“

 

Christoph Wenzel nimmt, flanierend und forschend, nicht nur die Heimat ins Visier, die allerdings den breitesten Raum einnimmt. Auch den Spuren der Droste folgt er kurz. Der Wahlheimat Aachen und, noch kleinteiliger, der Bismarckstraße, da „steht ein Kind wie ein Hydrant, ein Mofa mäht vorbei.“ Dann ist Feierabend „und Autos reisen nach Jerusalem mehrfach um den Block.“

Diese eher spröde Ode an die Bismarckstraße ist großes Kino. Und wenn es nach nebenan, ins so grausam weltkriegsgeschüttelte Belgien, hier nach Flandern, geht, wird es nicht minder sprachgewaltig:

 

„… im zweifel ist ypern überall. ypern steht jetzt,

wo ypern stand. in ypern wird jeden tag der zapfenstreich geblasen

…im umland von ypern

fahren die bauern aufs schlachtfeld,

wenn sie den acker pflügen.“

 

Man könnte endlos weiterschreiben und sie preisen: all die vielen Assoziationen und Bilder, die so scheinbar leichthändig daherkommen, so wie nebenbei. Es ist ein Buch voller Tragödien, voll von Schönheit und Liebe und auch von launigem Witz, der – herrlich –Adorno (!) en passant mal eben verballhornt:

 

„kurz nach fünf werden die stellplätze gesperrt und

container landen an. ab jetzt gibt es hier kein richtiges

parken im falschen mehr.“

 

Yeah! Das ist gut!

 

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Ursula Maria Wartmann

 

Monika Littau „Manchmal oben Licht“, Dortmund, edition offenes feld 2021, Hardcover mit Schutzumschlag

 

Mit „Manchmal oben Licht“ nimmt die Protagonistin des gleichnamigen Buches Abschied von den alten Eltern. Wehmut und manchmal auch leiser Witz schwingen mit in den Texten voll von Abschiedstraurigkeit“ – als Hommage an den Vater, die Mutter.

Es ist ein Vermächtnis voll lyrischer kurzer Prosa; sie könnte dem Genre Erzählgedichte zugeordnet werden. Selten sind die Texte mehr als gut eine Seite lang, und reich bestückt sind sie mit den Requisiten vergangener Tage: Rosenkränze und Heißwasserboiler, das Fahrrad mit dem Damensattel, die Zigarrenkiste, in der alte Fotos wie ein Schatz gehütet werden.

 

Die Rückblenden stellt Littau dem Heute gegenüber – macht den geistigen Verfall und das erschütternde Verschwinden zweier Menschen sichtbar, die der Tochter als Kind einmal alles bedeutet haben. Bizarre, nicht durchschaubare Dinge oder Dialoge bestimmen den Alltag:

 „Mein Schatz, sagt Mutter zum Abschied.

Das sagt sie sonst nie.

Und Operation sagt sie,

obwohl er nur eine Spritze bekommt.“

 

Die Trauer, die Hilflosigkeit der Tochter im Hier und Jetzt wird immer wieder sichtbar; ihre Verletztheit auch angesichts von Zurückweisung und Unberechenbarkeit.

„Morgen um acht, sagst du.

Nur wenn du das willst, sagt Mutter.

Wir kommen auch so klar.“

 

Auf denkbar knappstem Raum wird literarisch eindrucksvoll die komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung vermessen.

„Der Mutterkörper …

Hielt sich aufrecht. Immer.“

 

Disziplin und Unnachgiebigkeit versus Wärme und Aufgehobensein: Die „Pranken“ des Vaters spielen eine große, gute Rolle, so in „Vaterhände“, dem längsten eher erzählenden Text des Bandes:

„Noch lieber magst du, wenn die Handschaufeln dich aufheben,

 er dich auf den Armen trägt, das Gefühl, als umschlössen

 die Hände den ganzen kleinen Körper und wärmten ihn.

 Auf seinem Schoß umfasst er mit der einen Hand Brust und Bauch,

 die andere hält er geöffnet, bis sich die Kinderhand hineinlegt.“

 

Rückblenden in eine Nachkriegszeit des Aufgehobenseins, in der die Welt von den Eltern noch verstanden wurde und ihnen nicht nur geschah. Grausam, was hinter der folgenden Szene aus „sicher“ vermutet werden muss:

 „Du bleibst an der Wohnzimmertür stehen,

 siehst zu, wie die Mutter versucht,

 in Vaters Krankenbett zu klettern.

 Sie hat sich die viel zu große Männerkleidung

 übergezogen und mit Gürteln festgezurrt.

Ich hab mir das angezogen, sagt sie und zieht an Vaters Jackett.

Weißt du, dann tun sie dir nichts.

Auf jeden Fall nicht so leicht.“

 

Wer so erschütternd mit den Kriegstraumata der Mutter konfrontiert wird, hat es mit Verstehen und Vergeben vielleicht leichter. Auch mit der Herzenshärte dieser häufig selber so verletzten und beschädigten Müttergeneration, die ja ein Phänomen ist, unter dem viele der Töchter, die in den 1950ern geboren wurden, litten und leiden. Als das Kind sich einmal fast an einem Band stranguliert, das die Mutter ihm nachts anlegt – es soll nicht „barfuß im Nachtpölterchen“ herumgeistern – heißt es nur lapidar:

„Mein Gott, sagt Mutter.

Ich hätte mich ja unglücklich machen können.“

 

Wimmerwuchs heißt dieser Text bezeichnenderweise; ein lautmalerisches, poetisches Wort, von denen so manches in Monika Littaus Buch zu finden ist: Gefrornis. Wurzelgefühl. Scherbenschmelzen. Auch der Begriff Lumen taucht mehrfach auf – als Einheit für Licht, als Gegenpart zur sich zunehmend ausbreitenden Dunkelheit. Fotos von Littau ergänzen die Texte; sie zeigen abstrakt den vielschichtigen Lichteinfall durch Glas.

 

„Ein Elternabschied in VII Stationen“ wird von Monika Littau auf 115 Seiten aufgezeigt, der der Tochter alles abverlangt an Kraft, an Liebe und auch: dem Willen zur Vergebung. Aus einem Konglomerat von Gefühlen und Widersprüchlichkeiten, von Gestern und Heute, wurde berührende Literatur gemacht, die am Ende im Angesicht des Todes sogar Trost zu spenden vermag.

„Fast lautlos geht Mutter.

 Ihr helft ihr die Augen zu schließen.

 Draußen ist frischer Schnee gefallen,

 gleißend glänzt er.

Stunden später zieht eine Schar Gänse am Himmel,

kehrt zurück zu den Schlafgewässern.“

 

© Ursula Maria Wartman

 

Monika Littau „Manchmal oben Licht“, edition offenes feld 2021, Hardcover mit Schutzumschlag.

 

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Ursula Maria Wartmann

 

Franziska Beyer-Lallauret „Falterfragmente / Poussière e papillon“ mit Bildern von Johanna Hansen und einem Nachwort von Patrick Wilden. Oschersleben Dr. Ziethen Verlag

Keine Frage: Sie ist sich treu geblieben. Nach „Warteschleifen aus Holz“ legt die Lyrikerin  Franziska Beyer-Lallauret einen nächsten Gedichtband vor, der erdig und rätselhaft daherkommt. Zweisprachig außerdem: Falterfragmente / Poussière de papillon ist sein Titel; kongeniale Bilder von Johanna Hansen erweitern das Lesevergnügen.

 

Es geht um Kindheit, um Heimat. Um Natur und Landschaft, um bäuerliches Leben von einst, das die Kindertagträume umhüllte. Um Rückkehr geht es, hier und heute, und immer wieder um Erinnerung.

Wir gehen zurück ins Haus

Klauben Spieldosen aus wurmstichigen Truhen

Glauben gerne wieder an Wesen

Die Federn an hängende Schultern heften

(Aus: „Allerheiligen“)

Jedes der 35 Gedichte, sie sind in sieben deutsch-französische Zyklen unterteilt, kommt ohne Satzzeichen aus. Mögliche Irritation, die auch durch Zeilenumbrüche ausgelöst werden, erweitern und verändern den Horizont, bereichern das Empfinden. Auch der kleinteilige Blick Beyer-Lallaurets lässt immer wieder aufhorchen, wie in „Frommer Wunsch“:

Holzwürmer singen ein knisterndes Lied

Von Häusern wie diesen

… und auch der Verfremdung liegt ein sehr besonderer Blick auf die Dinge zugrunde:

Im Giebel unter den Balken die Treppe

Zieht manchen von uns die Füße fort

Surreale Bilder immer wieder – auch im nächsten großen Thema, der Beziehung eines Ich zu einem Du. In „Euphorie“ wird offenbar Gedankenspielen der Garaus gemacht:

Zehn Zentimeter überm Linoleum

Schweben die schönsten

Verschwendeten Gedanken

Die rupfst du mir aus

Den Schultern sie wachsen

Wie Unkraut sagst du

Das Thema Liebe – immer wieder spannungsgeladen; es geht um Herrschaft, Ohnmacht, Macht und Konkurrenz:

Mich hältst du immer noch für den Garten

Und dich für den Wald

Du kennst meine Finsternis schlecht

Ich kann jetzt den Hexenstich

(Aus: „Übermut“)

Und immer wieder Metaphern, dicht gewebt und treffsicher, kluge ausgeklügelte Bilder wie dieses aus „Trompe-l’oeil“:

… im Weichbild

Halbleerer Häuser am Marktplatz

Wo kalte Frauen in bunten Schürzen wohnen

Das macht vor kalten Frauen schauern. Großes Vergnügen bereitet auch der wortspielverliebte Humor, der immer wieder aufblitzt, frech und blitzschnell. So wie in „Nachlass“:

Blätter stehen in keinem

Letzten Willen werden

Dir folgen übern Jordan

Den Finken geht das vorbei

An den Hinterfedern

Ha! Hinterfedern! So witzig kann Lyrik auch sein! Große Empfehlung.

 

www.lyrikgesellschaft.de