Kapitel 1
Marlene stieß mit der Fußspitze die Wohnungstür auf. Feierabend. Wochenende. Hinter ihr glitten mit einem Sirren die Türen des Aufzugs zu. Marlene war 62, und sie hatte ihre Schäfchen im Trockenen, zumindest finanziell. Über den Rest dachte sie lieber nicht zu ausführlich nach, da konnte man nur depressiv werden. Immerhin war sie selbstkritisch genug, das zuzugeben.
Dieser junge Typ gestern, der am Vormittag den Wein geliefert hatte. Sie hatte sich extra frei genommen. Zwischen zehn und zwölf, hatte die E-Mail von der Mosel bestätigt, zwischen zehn und zwölf würde die Lieferung kommen: Pinot noir, ein ganz besonderes Moseltröpfchen. Und dann stand dieser knackige Adonis schon um halb zehn vor ihrer Tür. Sie im Morgenmantel, ein bisschen zerknautscht noch. In letzter Zeit trank sie mehr Wein, als ihr guttat. Gott sei dank war sie schon geduscht und parfümiert, und als es klingelte hatte sie im Bad gerade den neuen Lippenstift von Buena ausprobiert. Sie bemerkte natürlich den interessierten Blick des Jungen, der wahrscheinlich gerade mal über zwanzig war. Er könnte locker ihr Sohn sein, hatte sie gedacht, aber egal.
Sie hatte sich keine Mühe gemacht, ihre Brüste zu verhüllen.
Sie legte ihre Zunge in den linken Mundwinkel und ihre Hand auf seinen rechten gebräunten Unterarm.
„Etwas zu trinken, junger Mann, oder haben Sie schon gefrühstückt?“
Sie sah zu ihm hoch.
Sie nötigte ihm einen Espresso auf. Unten auf der Straße stand sein Transporter. Sie hielten die kleinen dickbauchigen Tassen in der Hand und traten auf den Balkon, der wie eine Balustrade einmal um das gesamte Penthouse herumlief. Wie jedes Mal hatte sie den Impuls, von hier oben aus der Welt den Papstgruß zu entbieten: Urbi et orbi. Allmachtsgefühle. Hier oben hatte keine Abendsonne auch nur die geringste Chance: Sie, Marlene von Papenhaus, würde ihr beim Untergang zusehen.
Er nahm einen Schluck.
„Uh, heiß!“, sagte er, und sie fand ihn süß dabei, wie er unter dem kleinen Schmerz die Augen zusammenkniff. Seine Wimpern waren glänzend und dunkel. Sie beugte sich vor. Der Transporter war ein bisschen verschrammt. Weiß, quietschgrüner Schriftzug: Weingut Kümmerer.
Da stand er.
„Da steht er“, sagte sie und strahlte ihn an. „Wie heißen Sie denn?“
„Tom“, sagte er einsilbig und schlürfte mit gespitzten Lippen einen Milliliter Espresso aus der Tasse.
„Was für ein schöner Name“, rief sie laut aus. „Tom Sawyer – haben Sie das mal gelesen?“
„Von Karl May war das doch?“, mutmaßte er. „Nee, so was hat mein Opa im Schrank.“ Er trank die Tasse leer. „Ich lese nicht so, klar, nö, außer Lieferscheine natürlich!“
Sie musterte seine schmalen Hüften und den prall gefüllten Hosenlatz. Schade, dass bei dem knackigen jungen Mann, gut, sie gab es zu, er könnte ihr Enkel sein, sonst nichts zum Stehen kam. Okay, sein Transporter stand unten vor dem Haus. Und jetzt stellte er die dickwandige Espresso-Tasse, vorsichtig neben den Alessi-Kessel. „Soll der Wein in den Keller?“, fragte er. „Oder können Sie ihn hier oben lagern.“
Er versuchte, nicht in ihren Ausschnitt zu gucken, das sah sie ganz genau, und blickte sich bewundernd in dem ganz in weiß gehaltenen Wohnzimmer um. Nur die großformatigen Bilder fielen aus dem Rahmen: abstrakt, bunt, geheimnisvoll. Marlene stellte ab und zu in Arztpraxen oder Gesundheitszentren aus. Ihr letztes Werk war eine riesenhafte runde Tablette in Acryl gewesen – Durchmesser einen Meter und ganz in schwarz -, die einen goldenen Schriftzug trug: Geht es dir gut?
„Diese ganzen Riesenbilder“, sagte der junge Tom, „Wahnsinn ist das. Sind die alle von Picasso?“
Das törnte doch sehr ab. Marlene nickte ganz einfach und schloss gleich zwei Knöpfe ihres Morgenmantels.
Eine Viertelstunde später waren die Weinkisten oben gewesen.
Natürlich war hier ausreichend Platz. Ihr Ankleidezimmer war dunkel und kühl, ein perfekter Ort, um den Roten bei Betriebstemperatur zu halten. Der Gedanke, dass sie am Ende nach Feierabend für ein nächstes Fläschchen in den Keller hätte fahren müssen, ließ sie erschaudern: Ihr Anblick, wenn sie die verspiegelte Aufzugkabine betrat, machte ihr nie – und damit meinte sie: nie! - gute Laune. Wenn sie ihr Antlitz auf der Suche nach Nachschub und einem Liter Roten im Blut im Spiegel sähe, würde sie die Frequenz bei ihrem personal coach deutlich erhöhen müssen, kaum noch machbar, wenn sie keine Nachtschichten bei ihm einlegen wollte.
Wenn sie ehrlich war, war sie manchmal einsam, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie diesen Zustand verändern sollte. Als Pharmareferentin redete sie jeden Tag mit vielen Leuten, aber da ging es mehr um Wirkungen und Nebenwirkungen, und das war nichts, was ihr in irgendeiner Art persönlich weiterhalf.
Streng genommen fiel sie Abend für Abend schlecht gelaunt auf ihr Designersofa im Essener Nobelviertel Bredeney und hatte so gerade noch die Kraft, sich ihren Pinot noir einzuschenken. Von gestern war noch ein Schluck in der Flasche des Moselwinzers übrig geblieben. Sie schenkte sich ein und trank das Glas noch im Stehen leer. Ein bisschen doof, aber schnuckelig dieser junge Typ, der die Kisten gebracht hatte. So was hatte sie früher gerne vernascht: blond, athletisch, nicht zu groß. Glatt rasiert – das war für sie immer Bedingung gewesen, auch damals an der Uni in Marburg. Da hatte sie ein paar Semester studiert, bevor sie in Bochum weitermachte. Die aufgeblasenen Kerle hatten genauso bescheuert ausgesehen wie heute wieder. Vollbärte in allen Farben und Formen, Karl Marx war nichts dagegen gewesen. Ihre glatt Rasierten hatte sie dann eher bei den Theologen oder Pharmazeuten gefunden – es war ein gewisser Toni aus Bayern gewesen, der ihr diese sensationellen Orgasmen beschert und sie an das Thema Pharmazie herangeführt hatte.
Marlene grinste wehmütig, als sie an Toni dachte, der im bayerischen Konnersreuth damals angeblich einer gewissen Theresa versprochen gewesen war. Na ja, die Chance, dass sie es auch in der Ära nach den multiplen Orgasmen mit ihm ausgehalten hätte, wäre ohnehin gleich null gewesen. Toni und Marlene, das hatte nicht wirklich gepasst. Außer eine Weile in einem Bett in der Marburger Oberstadt.
Sie lief ins Bad, schminkte sich ab und wusch sich die Hände. Heute würde sie das Penthouse nicht mehr verlassen. Morgen schon. Morgen war Samstag; auf dem Baldeneysee würde eine Segelregatta stattfinden.
Sie war dort mit Klaus verabredet. Nichts Aufregendes. Sie hatte früher mal eine Zeitlang mit ihm geschlafen, dann hatte er geheiratet, Moni, ein vollkommen langweiliges Weib aus Bielefeld, das zu allem Überfluss auch noch fromm war. Sie hatten eine Weile zusammen Doppelkopf gespielt, und später hatte ihr Moni mit stockender Stimme berichtet, wie verklemmt Klaus im Ehebett war. Marlene hätte ihr gerne berichtet, was zu tun war, um Klaus in Fahrt zu bringen, aber das hätte die Dinge unnötig verkompliziert.
Zu Beginn seiner Ehe mit Moni hatte sie es geschafft, ihn ein paar Mal zu verführen. Sie hatte es immer – und damit meinte sie: immer! – geschafft, Ehemänner ins Bett zu kriegen. Nur bei Dieter und Gerlinde hatte das nicht geklappt. Dieter war als einziger hart geblieben.
Sie hatte damals gebaggert, als würde es um ihr Leben gehen. Sie wusste genau, dass Dieter ein Paradebeispiel für Promiskuität war, und dass er ausgerechnet ihr einen Korb gegeben hatte, hatte sie schwer getroffen. Wenn sie ehrlich war, war sie damals derart gedemütigt gewesen, dass sie das bis heute nicht wirklich verwunden hatte. Wie es den beiden wohl ging, ob sie noch zusammen waren? Sie hatte ewig nichts von ihnen gehört.
Klaus war jedes Mal weiß vor Scham geworden, wenn sie zusammen im Bett gewesen waren, aber ihr hatte das Ganze diebischen Spaß gemacht. Nach seiner Scheidung vor ein paar Monaten hatten sie es noch ein paar Mal miteinander versucht, aber jedes Mal war es ein Reinfall gewesen. Moni hatte irgendwie recht gehabt: Doch ein Klemmi, hatte Marlene damals gedacht. Besser, man ließ den Kram einfach sein. Das Leben war auch so schon stressig genug.
Klaus war faltig und runzelig geworden; sie war schockiert gewesen, als er nach all den Jahren das erste Mal nackt neben ihr lag. Er ging auf die siebzig zu. Sie schauderte, wenn sie sich auf diese Zahl wirklich einließ: Siebzig, das war grausam; sie selbst war davon nun auch nicht mehr Lichtjahre entfernt und wahrscheinlich hatte Klaus auch erstmal geschluckt, als sie ihren Striptease hinlegte. Sie machte das noch einigermaßen selbstbewusst, wenn es sich denn einmal ergab; sie würde das aber klugerweise in Zukunft lassen, wenn dadurch ein Vergleich zu früher möglich war.
Außer natürlich mit Dieter. Das mit Dieter stand definitiv noch auf ihrer Lebensagenda.
Sie war schlank und groß, hatte halblange blonde Locken und war auf exzentrische Art attraktiv. Designerklamotten. Handtellergroße Ohrringe. Schwerer Silberschmuck. Natürlich färbte sie ihr Haar, auch das Schamhaar für den Fall der Fälle. Der war allerdings im Lauf der Jahre immer seltener aufgetreten. Was zum Teil auch daran lag, dass so manche Herren ihres Alters gern ein wenig streng rochen. Und die jungen Kerle wenig Lust auf alte Tanten hatten.
Sie ließ sich aufs Sofa fallen und schenkte Wein nach. Klaus’ Blicke hatten ihrem Selbstbewusstsein damals einen deutlichen Dämpfer versetzt. Aber er war eine treue Seele; vielleicht, dachte sie, war es doch das, was eigentlich zählte. Fairness. Anstand. Treue. Er hatte auch zu Moni, seiner frommen Ex aus Bielefeld, nach wie vor einen guten Kontakt. Sie hatte den Pastor einer Freikirche geheiratet und betete für Klaus.
Marlene musterte die schwarze Riesentablette – Geht es dir gut? – über dem offenen Kamin und schloss in einem Anfall großer Mattigkeit die himmelblauen Augen. Sie riss sie erstaunt wieder auf, als das Telefon klingelte. Nicht das Smartphone, sondern der Festnetzanschluss – wer hatte denn davon überhaupt noch die Nummer?
Sie erhob sich ächzend, angelte den Hörer von der Station und ließ sich schwer zurück auf das Sofa fallen.
„Von Papenhaus“, sagte sie.
„Marlene?“, fragte eine heisere Stimme. „Sybille hier. Hast du einen Moment?“
„Sybille“, sagte Marlene überrascht, „das ist ja mal eine Überraschung. Wann hab’ ich zuletzt von dir gehört – kurz nach nine eleven, kann das sein?!“
Sie kannte Sybille aus den Uni-Tagen. Sie hatten in Bochum studiert und in Essen in verschiedenen Wohngemeinschaften gelebt. Sie waren eine Zeit lang viel zusammengewesen, sie hatten Klamotten getauscht, viel gewitzelt und viel geheult, sich gegenseitig bekocht und den einen oder anderen Mann geteilt. Sybille war Biologin geworden und für Jahre in Südamerika verschwunden gewesen. Marlene überlegte: Ja, das konnte hinkommen, dass sie vor vierzehn Jahren zuletzt von ihr gehört hatte. Irgendwann in diesem Frühjahr war Sybilles Mutter gestorben, sie hatte die Anzeige in der Tageszeitung gelesen.
„Nine eleven? Kann sein“, sagte Sybille, „seit ich in die Jahre komme, verliere ich den Überblick über Zeit und Raum.“ Ihr Lachen klang, als wäre sie von den Gauloises noch immer nicht losgekommen. Sie räusperte sich. „Und?“, sagte sie, „wie ist es so?“
„Na ja“, sagte Marlene, „wie soll es sein. Muss! – Und selbst? Seit wann bist du wieder im Ruhrpott?“
„Seit zwei Wochen“.
„Ja, und: Wo warst du die ganze Zeit? Das letzte, was ich weiß, ist Südamerika!“
„Südamerika!“ Sybilles Stimme klang verächtlich. „Stimmt, da war ich drei Jobs und vier Ehen lang, aber dann war es auch genug! Das waren fast dreißig Jahre Chile.“
„Hammer!“ Wie üblich kam sich Marlene bescheuert vor, wenn sie dieses Wort benutzte, aber sie tat es trotzdem. „Du willst sagen, du hattest vier Ehegatten?“
Ihr letzter Stand waren zwei Ehegatten. Wo genau Chile lag, wusste sie auch nicht. „Hammer“, wiederholte sie.
„Bingo“, sagte Sybille. Klang genauso bescheuert. Marlene hörte, wie etwas eingegossen wurde. „Vier Pfeifen aus Südamerika. Zwei Landarbeiter, ein Hochschulprofessor. Und ein angehender Zahnarzt, der war das größte Arschloch. Prost!“ Sie kam der nächsten Frage zuvor und zündete sich erstmal eine an. „Immer noch keine Kinder“, krächzte Sybille und versank fürs erste in einem gigantischen Hustenanfall. „Wäre ja irgendwann auch ein bisschen spät gewesen, was?“, keuchte sie.
Sie kicherte.
„Und, wo bist du jetzt?“, fragte Marlene.
„Heute hier morgen dort“, antwortete Sybille sybillinisch. „Die letzten zwei Jahre war ich in Schweden. Småland. Ziemlich einsam da. An dem Hof von Håkan kam alle zwei Wochen mal ein Auto vorbei. Manchmal auch nicht. Ehrlich gesagt war es mir irgendwann zu langweilig da.“
„Håkan ist wer?“
„Was glaubst du?“, fragte Sybille.
„Der, mit dem du eine Weile ganz gut gevögelt hast“, mutmaßte Marlene. Sie hatte den Hörer zwischen Schulter und Kinn geklemmt, entkorkte die nächste Flasche von der Mosellieferung und wartete einigermaßen genervt auf das nächste Bingo.
„Du sagst es“, sagte Sybille einsilbig. „Obwohl, so gaaanz langsam ist das Thema auch nicht mehr gaaanz so wichtig, oder? Dreimal darfst du raten, wen ich da oben getroffen habe. Weißt du, wer es sich da oben in Bullerbü-Land so richtig nett eingerichtet hat?“
„Nö“, sagte Marlene in schönster Logik, „woher denn auch?“
„Gerlinde und Dieter“, sagte Sybille. „War das nicht der einzige Kerl, den du nie rumgekriegt hast?“
„Bingo“, sagte Marlene.
Sie merkte, wie ihr auf einmal ziemlich heiß wurde.
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